SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

03NOV2024
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„Hm. Schmeckt nach Sonntag“, sagt sie und leckt sich über den Mund. Mir gegenüber sitzt Inge. Sie wird heute 90 und ich besuche sie zum Geburtstag. Als ich komme, hat ihre Enkelin ihr gerade eine Tasse Kakao gebracht. Inge macht keine Umstände aufzustehen als ich reinkomme. Sie setzt auch die Tasse nicht ab, sondern zeigt mir mit der Tasse in der Hand, dass ich auf ihrem gemusterten Sofa Platz nehmen soll. Die Enkelin schmunzelt und fragt: Möchten Sie auch einen Kakao? Ich überlege, wie ich am besten sage, dass mir von Kakao immer schlecht wird. Die Enkelin reagiert sofort: Lieber Kaffee, stimmt’s?

Ich lache und Inge sagt nochmal – und dabei hat sie jetzt die Augen zu:
„Hm. Schmeckt nach Sonntag.“ Nach einer Pause ergänzt sie: „Ich vertrage Kakao eigentlich nicht gut“, und ich muss lachen. „Aber ich mag so sehr, wie er schmeckt! Deswegen gab’s zu meiner Kinderzeit immer nur sonntags Kakao. Und für mich immer nur eine Tasse.“

Fünf Geschmacksrichtungen, heißt es, können wir Menschen unterscheiden: Süß, sauer, salzig, bitter und „Umami“, das ist so etwas wie herzhaft. Und wenn wir Inge glauben, dann kann unser Geschmack noch mehr: Er kann Erinnerungen hervorrufen - nicht an Einzelnes, sondern an gesammelte Kraft.

Friedrich Schleiermacher hat diesen Sinn den „Geschmack für’s Unendliche“ genannt und Religion so beschrieben. Der Glaube an Gott ist den Sinnen so oft verborgen, aber er ist nicht ganz über-sinnlich. Wie Inge „schmecken“ wir manchmal, dass es getragen ist, dieses Leben. Dabei ist es verletzlich und unvollkommen – auch Inge schmeckt, wenn sie Kakao trinkt, dass sie ihn eigentlich nicht gut verträgt.

Unser Geschmackssinn kann mehr als wir denken: Er kann uns erinnern an bittere Zeiten. Ja, leider vergisst der Geschmackssinn auch das nicht. Er kann uns ebenso an Kraft erinnern. Er kann das Leben schmecken. Oder wie Inge es ausdrückt: Manchmal schmeckt das Leben nach Sonntag.

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