Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Anna und Ludwig Haber haben in der Schwerdstraße gewohnt, ganz in der Nähe von meinem Büro. Ich bin schon oft an ihrem Haus vorbeigekommen. Die beiden wohnen schon längst nicht mehr hier, seit 1939. Da wurden sie gezwungen, ihr Haus zu räumen. Schon vorher hatten sie versucht, aus Deutschland zu fliehen. Nach den Novemberpogromen 1938 wollten sie nach Frankreich ausreisen. Aber man ließ sie nicht mehr gehen. Es war zu spät.
Ich weiß nicht genau, was mit Ludwig und Anna in diesen Novembertagen im Jahr 1938 geschehen ist. Haben Unbekannte ihr Wohnhaus beschmiert und die Fenster eingeschlagen? Ihre Gerberei verwüstet, die seit fast 50 Jahren in Familienbesitz war? Haben Fremde Ludwig zusammengeschlagen und Anna gedemütigt auf den Straßen, auf denen ich heute gehe? Oder waren es doch eher Nachbarn, Geschäftspartner, Bekannte, die ihnen das angetan haben?
Was auch immer genau passiert ist: Wahrscheinlich waren es Nachbarn, Mitbürgerinnen, Bekannte, die es getan haben. Und ganz sicher waren es Nachbarinnen, Mitbürger und Bekannte, die dabei zugesehen haben. Sie haben Ludwig und Anna gedemütigt, bedroht und gequält. Einfach, weil sie Juden waren. Dort, wo Anna und Ludwig Haber früher gewohnt haben, ist heute ein goldener Stolperstein in das Pflaster auf dem Gehweg eingelassen. Nur deshalb weiß ich, wie sie hießen und dass sie hier lebten. Dass ihre Mitmenschen sie leiden ließen. Und dass sie schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Ein paar Häuser weiter hängt unter einem Fenster eine Fahne im Regen. „Nie wieder ist jetzt“ steht darauf. Und ich frage mich, ob es wieder passieren könnte, dass ganz normale Leute, so wie Sie und ich, zuschauen, wie ihre Nachbarn oder Bekannten bedroht und gedemütigt werden. Und mit den Schultern zucken. Und sagen: „Ich halt mich da besser raus.“ Ich fürchte, es ist schon ganz oft so. Und ich hoffe, wir werden aufmerksam und mutig genug sein, um das zu verhindern: Dass wir eines Tages im Novemberregen stehen und feststellen: Es ist zu spät.
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