Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Als Moses vom Berg Sinai herunterkommt, die Tafeln mit den Geboten in der Hand, sagt er den Israeliten: Leute, ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht für euch. Die gute Nachricht: Ich konnte den da oben auf 10 herunterhandeln. Die schlechte: Das 6. Gebot ist immer noch dabei.
Witze enthalten oft Wahrheit. Die Wahrheit in diesem Fall: den meisten Menschen fällt, wenn es um die 10 Gebote geht, zuallererst das sechste ein: „Du sollst nicht ehebrechen“. Und: viele Menschen sehen hier das Gebot, das am meisten verbieten und am meisten den Spaß verderben will. Dazu trägt bei, dass auch kirchliche Moral sich häufig sehr auf dieses Gebot konzentriert hat.
Ursprünglich ging es beim 6.Gebot gar nicht um Sexualität, sondern um Besitz. In Israel vor gut zweieinhalbtausend Jahren gehörte eine Frau ihrem Mann, auch wirtschaftlich. Und das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ bedeutet: Du darfst keinem Mann die Frau wegnehmen, ihm nicht seinen Besitz streitig machen. Es ist ein weiter Weg von diesem Ursprung bis zu den späteren Beichtspiegeln, die alle Bereiche sexuellen Lebens oft unbarmherzig ausgeleuchtet haben. Heute noch leiden erwachsene Männer und vor allem Frauen unter Schuldgefühlen, die Eltern oder kirchliche Autoritäten ihnen eingeimpft haben.
Auf der anderen Seite: der Wunsch, mit jemandem ein Leben lang zusammenzusein, ist ungebrochen. Der Wunsch ist da – aber immer öfter erfüllt er sich nicht. Und religiöse Menschen wünschen sich, dass die Kirche dann barmherziger mit ihnen umgeht. Ohne das Gebot als solches aufzugeben. Der Benediktinerabt Notker Wolf schreibt dazu: „Was wäre gewonnen, wenn die Kirche sagen würde: Liebe geht auf Zeit? Was Gott verbunden hat, das trennt sich auch wieder? ... Das sechste Gebot ist hoffnungslos romantisch: Es weiß, dass Beziehungen scheitern können, wie schnell Treue gebrochen ist. Aber es träumt unverdrossen von der unendlichen Liebe zwischen zwei Menschen.“*
Das finde ich eine durchaus sympathische Sicht des sechsten Gebotes.

*(Notker Wolf, Matthias Dobrinski, Regeln zum Leben. Die Zehn Gebote – Provokation und Orientierung für heute. Freiburg 2008, 117f.)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4076
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