Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Auf dem Platz vor unserem Pfarrhaus werden die Kastanien langsam reif. Die grünen Stachelhüllen sind prall gefüllt und platzen langsam auf. Die Grundschulkinder, die jeden Tag auf ihrem Schulweg über den Platz laufen, können das kaum erwarten. Sie warten nicht, bis die Kastanien von selbst runterfallen. Sie nehmen Stöcke und ihre Turnbeutel, werfen sie in den Baum und hoffen, sie so zu erbeuten. Die Kinder sind eifrig bei der Sache, geben nicht so leicht auf und jubeln über jede Kastanie, die sie schließlich in den Händen halten.
Und wenn es dann endlich so weit ist, dass die Kastanien von selbst von den Bäumen prasseln, dann ist die Aufregung und die Freude bei den Kindern jeden Morgen groß. So schnell wie möglich wird das kostbare Gut eingesammelt und die Schätze in die Taschen gestopft.
Ich beobachte das Treiben auf dem Platz und denke: Ja, am Anfang sind sie wunderschön, die Kastanien. Sie glänzen in allen Brauntönen und wenn man sie in die Hand nimmt, dann fühlen sie sich ganz glatt an und auch ein bisschen kühl. Aber ich weiß es ja aus langjähriger Erfahrung: Schon nach wenigen Tagen werden sie ganz matt und schrumpelig sein. All die Schönheit ist so schnell dahin.
Die Kinder lassen sich von dieser Vergänglichkeit nicht beeindrucken. Sie sehen das, was jetzt ist. Sie sehen den wunderschönen, glänzenden Schatz. Vielleicht ist es das, was der Apostel Paulus meint, wenn er sagt, dass wir Gottes Herrlichkeit, diesen Schatz, immer nur in zerbrechlichen Gefäßen haben (2. Korinther 4,7). Alles hier auf dieser Erde ist vergänglich, alles und alle werden alt und schrumpelig, stumpf und faltig. Und trotzdem steckt in allem Gottes Herrlichkeit. Und wir können sie erkennen in einer einzigen Kastanie. Ich hebe eine Kastanie auf, freue mich über ihre Schönheit und stecke meinen Schatz in die Tasche.
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