SWR4 Abendgedanken
„Rausfahren, wenn andere reinkommen!“ – Ein großes Schild aus rostigem Stahl steht vor einem Backsteinhaus mit einem großen Tor. Darüber ein rotes Kreuz auf weißem Hintergrund. Das habe ich im Urlaub auf einer der deutschen Nordseeinseln gesehen. Und erst mal gar nicht verstanden, worum es hier geht. „Rausfahren, wenn andere reinkommen!?“ Ist das Werbung für eine nächtliche Kneipentour oder was?
Das große Tor stand offen, also bin ich neugierig reingegangen. Und schnell ist mir klargeworden, dass ich mit der Kneipentour wohl auf dem falschen Dampfer war. Das rote Backsteinhaus entpuppt sich als alter Bootsschuppen, darum das große Tor. Und es hat früher ein Rettungsschiff beherbergt. Immer wieder kam es vor den Inseln in der Nordsee dazu, dass Schiffe kenterten und die Besatzung in Not geriet. Im Jahr 1854 sank eins der großen Auswandererschiffe auf dem Weg nach Amerika in einem furchtbaren Sturm und die Inselbewohner mussten zusehen, wie die Menschen in den eisigen Fluten ertranken. Aus dieser Not wurde dann 1865 die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Von da an sind mutige Männer und später auch mutige Frauen rausgefahren und haben ihr Leben riskiert, um das Leben anderer zu retten. Hut ab, kann ich da nur sagen.
Was mag ihre Motivation gewesen sein? - Früher, da hat man den mausearmen Insulanern unterstellt, sie wollten vor allem – nach Seeräubermanier – die Ladung und die wertvollen Gerätschaften auf den Schiffen abgreifen und sich so ein paar Taler dazu verdienen. Mag sein, dass das auch vorgekommen ist. Aber ich bin mir sicher, die Männer, die sich damals in der Seenotrettung ehrenamtlich engagiert haben, die hat etwas anderes angetrieben. Sie wussten, wie erbarmungslos das Meer sein kann. Sie wussten, wie furchtbare Angst man dort draußen haben kann. Und sie haben gehandelt, weil sie helfen wollten. Weil ein Menschenleben, auch das eines Unbekannten, für sie wertvoll war. Vielleicht haben sie auch geglaubt, dass Gott ein Gott ist, der das Leben will, nicht den Tod, ein Gott, der für die Hoffnung steht, nicht für die Verzweiflung. Und dass Gott dort, wo Menschen sich lieben und füreinander da sind, uns ganz nahe ist. Damals, wie heute.
„Rausfahren, wenn andere reinkommen!“ – Ich finde, dass das auch ein gutes Motto für die Arbeit unserer Kirche und vielleicht sogar für jeden Christen und jede Christin heute sein könnte. Dorthin gehen, wo sonst niemand ist. Da helfen, wo alle anderen schon aufgegeben haben. Kein einziges Menschenleben aufgeben. Und so einen Gott bezeugen, der Leben will und nicht den Tod. Eben rausfahren, wenn andere reinkommen.
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