Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
„Stolpersteine!“ Hinter mir höre ich jemanden rufen. Ich drehe mich um und sehe, wie ein kleines Mädchen seine Mutter zurückzieht. Vor einem Hauseingang hat sie Stolpersteine entdeckt. Gemeinsam beugen Mutter und Tochter sich über die Messingsteine im Boden. Und dann liest die Mutter ihrer circa sechsjährigen Tochter vor, was sie auf den Steinen lesen kann. Einen Moment noch bleiben sie stehen, dann gehen sie weiter, an mir vorüber. Und ich höre, wie sie überlegen: Wie alt waren die Menschen, als sie aus diesem Haus deportiert wurden? Und: Wie lange haben sie danach noch gelebt?
Beim Zuschauen habe ich mich ertappt gefühlt. Ich gehe dort oft an diesem Haus vorbei, aber wahrgenommen habe ich die Steine nicht. Unzählige Male muss ich schon über sie hinweggesehen haben. Ich habe mich gefragt: Warum eigentlich? Stolpersteine sollen ein Hingucker sein. Sie sollen auffallen und uns unterbrechen, uns innehalten lassen. Stolpersteine sollen uns zeigen: Hier haben Menschen gelebt, die von den Nationalsozialisten deportiert und vielfach auch ermordet wurden. Menschen wie Sie und ich. Die Lebensgeschichten dieser Menschen sollten wir nicht vergessen.
Ich denke, ich bin nicht die Einzige, die die Stolpersteine im Alltag oft nicht wahrnimmt. Viele Schicksale geraten in Vergessenheit. Ein Gedanke aus der Bibel tröstet mich: Gott hat die Namen aller Menschen in das Buch des Lebens geschrieben. Kein einziger Name geht verloren oder gerät in Vergessenheit. Gott weiß um jede und jeden Einzelnen. Damals wie heute.
Das Mädchen mit ihrer Mutter hat mich beeindruckt. Mit Nachdruck hat sie ihrer Mutter gezeigt: Hier sind Stolpersteine, hier müssen wir hinsehen. Anscheinend ist es der Mutter – oder auch den Lehrerinnen und Lehrern – gelungen, dem Mädchen gut zu erklären, was es mit den Stolpersteinen auf sich hat. Und wie wichtig sie sind. Ich habe mir vorgenommen: Ich will heute Ausschau halten, nach Stolpersteinen und Lebensgeschichten, die nicht nur bei Gott gut aufgehoben sein sollen. Denn auch ich kann sie erinnern und von ihnen erzählen. Heute. Und an jedem anderen Tag.
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