SWR Kultur Wort zum Tag
Ich habe aufgehört mit meinem Freund Werner zu diskutieren. Werner ist über 70, ich kenne ihn schon lange. Immer wieder lädt er mich ein und ich lebe für ein paar Tage sein Leben mit. Er ist ein alter Klassenkämpfer und hat einen Hang zum realexistierenden Sozialismus. Er findet das meiste dumm und falsch in unserer Gesellschaft und hasst vieles. Am meisten hasst er aber die Katholische Kirche. Das sei ein männerbündischer Haufen von Pädophilen, der nur Leid und Elend über die Welt gebracht hat. Weil er weiß, dass ich katholischer Theologe bin, drückt er solche Sätze besonders drastisch aus. Und ich bin jahrelang bei unseren Begegnungen sofort darauf eingestiegen und wir haben losdiskutiert. Es waren harte Diskussionen voller Bier und Tabak, immer abends bei ihm zuhause oder im Wirtshaus nebenan. Aber es ist in all den Jahren nichts dabei herausgekommen. Tagsüber war es aber immer ganz anders. Wir haben zusammen seine Nachbarn besucht, er wohnt in einem Dorf in einer, wie man sagt, strukturschwachen Gegend. Alles alte Leute in zu großen Häusern, denen er, der noch rüstig ist, immer hilft. Und wenn ich da war, wurde ich immer eingespannt. Wir haben entrümpelt, Gärten gerichtet oder sind für die Leute einkaufen gegangen. Manchmal bin ich stundenlang mit an irgendwelchen Küchentischen gesessen und habe zugehört, wie Werner mit den anderen darüber gesprochen hat, wie es früher gewesen ist. Vor allem bei den verwitweten Frauen konnte ich erleben, wie witzig und charmant mein alter Freund eigentlich ist. Er ist in jedes Haus gegangen und war überall willkommen.
Auch wenn er ein grantiger, schimpfender und vielleicht auch verbitterter alter Mann sein mag, so ist er zugleich ein feiner Kerl und wir mögen uns unheimlich gern. Aber über die Kirche diskutieren will ich nicht mehr mit ihm, was eigentlich unüblich für mich ist. Denn ich bin der Meinung, dass man über alles reden kann. Hier stoße ich aber an meine Grenzen. Wir sind in diesem Punkt einfach anderer Ansicht. In unseren Welterklärungsmodellen kommen wir nicht zusammen. Das habe ich gelernt stehen zu lassen. Aber ganz konkret, in der Art und Weise, wie wir unsere gemeinsame Zeit verbringen, in den Besuchen im Dorf, da harmonieren wir wunderbar. Wir haben endlich damit aufgehört uns gegenseitig missionieren zu wollen. Unsere Grundsatzdiskussionen haben zu nichts geführt. Wir tun etwas gemeinsam aus unterschiedlichen Motiven heraus und sind dabei ein gutes Team. Vielleicht gibt es noch etwas Grundsätzlicheres als unsere Grundsätze. Etwas, das uns über alle Unterschiede hinweg verbindet. Ich möchte es Mitmenschlichkeit nennen.
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