Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Ihr Freund war nicht nett zu ihr, hat hässliche Dinge zu ihr gesagt. Und sie hat ihm dafür ihrerseits wieder Grobheiten an den Kopf geworfen. So könnte man kurz beschreiben, worum es in dem Gespräch der jungen Frau mit ihrer Freundin ging. Wer wie ich fast täglich mit dem Zug fährt, kennt das schon. Inzwischen gibt’s nämlich nicht mehr nur Dauertelefonierer, die ihre Umgebung gern mal eine ganze Zugfahrt lang unterhalten. Immer öfter erlebe ich auch Menschen wie diese junge Frau, die ihr Handy dabei laut stellen. So bekomme ich immerhin das ganze Gespräch mit und nicht nur die eine Hälfte. Ein echter Mehrwert! Und dann sind da ja noch die, die gar nicht telefonieren. Die sich einen Film oder ein Video anschauen und mich und andere mit der lauten Tonspur des Films unterhalten. Irgendwie unfair, find ich, dass sie mich nicht auch am Bild teilhaben lassen.
Tatsächlich frage mich, was mit den Leuten los ist. Warum immer mehr Menschen gut gefüllte Züge, Busse oder Cafés in ihr privates Wohnzimmer verwandeln. Warum es ihnen völlig egal zu sein scheint, dass wildfremde Leute wie ich ihre intimsten Sachen erfahren. Mich irritiert das, weil ich das selbst nicht will. Weil es Mitreisende im Zug ja nichts angeht, ob ich Stress mit meiner Familie habe. Welche Filme und welche Musik ich mag. Und weil es einfach übergriffig wäre, alle anderen damit zu behelligen.
Zurzeit wird über die angeblich grassierende Einsamkeit geredet. Manche raunen schon von einer Einsamkeits-Epidemie. Ob das wirklich so stimmt, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist das, was ich inzwischen fast täglich im Zug erlebe, eine spezielle Form davon. Da sitzen Menschen zwischen fünfzig, sechzig anderen und erscheinen doch einsam. In ihre Welt eingeschlossen. So, als ob keiner sonst da wäre außer ihnen. Als toleranter Mensch respektiere ich das natürlich. Nur manchmal, wenn ich im Zug arbeiten muss und es mich wirklich nervt, dann durchbreche ich diese Einsamkeit. Dann gehe ich zu diesem Menschen hin und bitte sie oder ihn höflich, aber bestimmt, den Ton leise zu stellen. Bisher jedenfalls hat das immer funktioniert – und zwar mit einem echten, zwischenmenschlichen Kontakt.
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