SWR4 Abendgedanken

29AUG2024
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Vor zwanzig Jahren habe ich eines meiner Lieblingsbücher geschenkt bekommen. „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse. Die Frau, die es mir damals geschenkt hatte, hat mir dazu den Rat gegeben: „Lies es alle paar Jahre. Denn Du wirst es immer anders lesen und Dir werden dabei immer andere Dinge auffallen.“ Seitdem tue ich das. Alle fünf oder sechs Jahre lese ich sie. Diese mittelalterliche  Geschichte einer lebenslangen Freundschaft.

Da ist auf der einen Seite der sensible Goldmund, der in jungen Jahren ins Kloster geschickt wird. Die festen Zeiten und Gebete dort geben ihm keinen Halt, sondern engen ihn ein. Altgriechisch zu lernen, langweilt ihn zu Tode. Wenn er die alte Sprache übt, malt er an manche Buchstabe einen kleinen Bogen und stellt sich vor es wäre ein Fisch. Dann ist er in Gedanken sofort an einem kühlen Bach. Goldmund ist ein Träumer. Und da gibt es auf der anderen Seite Narziss. Ein wenig älter als Goldmund. Ein Intellektueller. Der auch jung ins Kloster kam, dort aber seinen Platz gefunden hat.

Die beiden werden Freunde. Wohl gerade, weil sie so verschieden sind. Aber die gemeinsame Zeit ist kurz. Denn es ist bald klar. Goldmund wird dort nicht glücklich. Eines nachts flieht er. Zieht immer weiter. Bleibt selten irgendwo lange. Wird Bildhauer, hat viele Affären, erlebt Krieg und die Pest. Im Gegensatz zu Narziss. Das ist schnell erzählt. Der bleibt in diesem Kloster. Ein Leben lang. Arbeitet, betet und ist dort zufrieden. Zuerst als einfacher Mönch und dann sogar als Abt.

Auch wenn das Leben der beiden so unterschiedlich verläuft. Ihre Zuneigung füreinander bleibt, und immer wieder kreuzen sich ihre Wege.

Ich glaube, ich kann diese Geschichte deswegen immer und immer wieder lesen, weil sie das ganze Leben dieser unterschiedlichen Männer umspannt. Ich mich in verschiedenen Situationen und verschiedenen Lebensphasen wiederfinden kann, z.B. war altgriechisch lernen für mich auch ein Graus und Künstler bin ich als schreibender Mensch auch ein wenig. Aber erst beim zweiten oder dritten Mal lesen, hat mich sehr berührt, wie Narziss Goldmund einmal erklärt, dass er beim Beten nicht nach dem Sinn fragen darf, sondern sich einfach hingeben soll, so, wie wenn er ein Lied singt oder ein Instrument spielt. Weil er da ja auch nicht nach dem Sinn fragt.

Die ganze Geschichte ist jedes Mal dieselbe. Aber ich bin ein anderer geworden. Und manchmal fühle ich mich mehr mit Goldmund verbunden und ein anderes Mal eben mehr mit Narziss. Und ich bin gespannt, was die beiden mir nächstes Mal erzählen werden. 

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