Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Bis vor wenigen Jahren betonten die Wahlprogramme der Parteien die Werte „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“. Die einen sahen sich der Freiheit verpflichtet, andere mehr der Solidarität und wieder andere betonten die Gerechtigkeit. Meist kam eine Mischung aus den drei Werten heraus und gab dem Programm einen Rahmen. Durch Terrorismus und Kriege kam dann ein vierter Wert hinzu: Sicherheit. Nachvollziehbar, denn ohne Sicherheit sind die anderen Werte kaum zu verwirklichen.
Seit der Europawahl sehe ich aber eine wesentliche Veränderung. Auf den Plakaten und in den Programmen erscheint ein neuer Wert: Wohlstand. Und der verdrängt andere Werte. So plakatierte eine Partei nur noch: Freiheit, Sicherheit, Wohlstand. Gerechtigkeit und Solidarität kommen nicht mehr vor.
Ich verstehe Menschen, die Angst um ihren Wohlstand haben. Inflation, schrumpfende Wirtschaft und hohe Ausgaben für Krankheit und Pflege, Klima und Krieg – das kann ernsthaft beunruhigen. Zugleich frage ich, um wessen Wohlstand es der Politik geht. Die wirklich Wohlhabenden haben Mittel und Wege, ihren Wohlstand zu sichern. In der Pandemie steigerten die Milliardäre weltweit ihr Vermögen sogar um 60%. Wenn es wirklich um Wohlstand geht, dann doch um den gefährdeten oder den fehlenden Wohlstand derer, die nur knapp oder gar nicht über die Runden kommen: Viele Geringverdiener, Alleinerziehende, gesundheitlich Eingeschränkte, Menschen mit kleinen Renten und andere. Da geht es um eine gerechte und solidarische Beteiligung am Wohlstand unseres Landes. Und es geht auch darum, dass Menschen in anderen Ländern, die unseren Wohlstand sichern, Gerechtigkeit und Solidarität erfahren. Deshalb gehören für mich Wohlstand, Gerechtigkeit und Solidarität zusammen.
Der Apostel Paulus hat dafür ein ganz einfaches Rezept: Einer trage des anderen Last, sagt er, so erfüllt ihr das Gesetz Christi. Wer Lasten tragen kann für andere, insbesondere Ärmere, der soll das tun. Selbst wenn er für sich nichts erwarten kann. Denn er hilft so, unsere Gesellschaft etwas gerechter und solidarischer zu machen. Und darum sollte es in der Politik schließlich gehen.
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