Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Jesus hat Kinder sehr geschätzt. Schon das war eher ungewöhnlich für seine Zeit. Aber Jesus ist sogar noch weitergegangen: „Werdet wie die Kinder!“, hat er Erwachsenen gesagt.
Diese Meinung hat Jesus mit Erich Kästner gemeinsam. Der ist heute genau vor 50 Jahren gestorben. Für Kästner war das Erwachsenwerden wie die Treppe in einem Haus, die man Schritt für Schritt hinaufgeht. Allerdings, meint Kästner, vergessen die Erwachsenen manchmal, dass man eine Treppe ja auch in die andere Richtung benutzen kann und dass es sonst einseitig wird. In einer Schulansprache hat Kästner mal gesagt: „[M]üßte man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstsorten und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel?“
Jesus meint also, ich soll wieder werden wie ein Kind. Und für Erich Kästner ist mein Lebenshaus nur vollständig bewohnt, wenn ich auch mal wieder die Treppe zu meiner Kindheit und Jugend nehme, wenn also auch diese Lebensstufen weiter zu meinem Leben gehören. Aber warum eigentlich?
Ich glaube, es hat vor allem damit zu tun, dass Kinder unbefangen sind. Sie sind völlig offen für die Welt um sie herum, noch nicht festgelegt auf das, was „man“ zu tun oder zu lassen hat. Diese Unbefangenheit wünsche ich mir auch für mein eigenes Leben, in dem ich so oft nur funktioniere oder Dinge zu kontrollieren versuche.
Der Weg zu dieser kindlichen Unbefangenheit kann lang und schwer sein. Manchmal haben sich ja ganz andere Sätze tief eingeprägt. „Sei doch nicht kindisch!“, zum Beispiel, oder: „Das hast du doch nicht mehr nötig!“ Es kostet Zeit und Kraft, solchen alten Einreden etwas entgegenzusetzen und das Kindsein wieder zu üben.
Mir helfen oft meine eigenen Kinder dabei. Ihre Sicht der Dinge steckt mich immer wieder an. Und gemeinsam mit ihnen ist es mir auch nicht ganz so peinlich, im Einkaufszentrum auf der Rolltreppe verkehrt herumzulaufen … Aber vielleicht lese ich die Tage auch mal wieder in einem Erich-Kästner-Buch. „Das doppelte Lottchen“ zum Beispiel, „Pünktchen und Anton“ oder „Emil und die Detektive“. Denn, nochmal mit Erich Kästner: „Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!“
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