Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

„Verlieren hat mich stark gemacht, weil ich gelernt habe, aus allem das beste zu machen.“ Den Mann, der diesen Satz gesagt hat, kenne ich nicht. Aber er könnte von meiner Tante sein. Sie feiert heute ihren 70. Geburtstag. Als kleines Mädchen musste sie schon das verlieren lernen. Geboren während des 2. Weltkriegs, wurde sie mit ihrer Familie 1945 aus ihrer Heimat vertrieben. Das vertraute Zuhause, Großeltern, Tanten und Onkel, die heimatliche Landschaft, Spielsachen, Freundinnen – nichts blieb übrig. Später dann, mit neuem Boden unter den Füßen, als junge Frau, fragte sie keiner, welchen Beruf sie selbst gerne ergreifen wolle. Ihre Mutter entschied, womit man in der Nachkriegszeit am ehesten Geld verdienen könne. Jung verheiratet und in froher Erwartung, Mutter zu werden, musste sie ihre Zwillinge begraben. Bald darauf wurde sie krank. Es dauerte Jahre bis es einen klaren Befund gab. Seit Jahrzehnten lebt sie mit Schmerzen und ihr Körper verliert an Kraft.
Die Schicksalsschläge so Schlag auf Schlag hintereinander zu hören, ist hart. Und doch ist diese Frau mit ihren 70 Jahren alles andere als ein Häufchen Elend. Sie wird nicht müde, das zu tun, was sie trotz allem tun kann. Manchmal ist das nur einmal am Tag die 15 Stufen in ihrem Haus herauf- und herunter zu gehen um Holz im Ofen nachzulegen. Sie hat gelernt, jeden Tag neu zu schauen, was ihr möglich ist, wofür sie Hilfe braucht, woran sie sich freuen kann. Menschen, die zu ihr kommen sind beeindruckt von ihrer inneren Kraft. Jeden Tag betet sie zum Herrgott, dass sie annehmen kann, was kommt. Sie hat oft Besuch von Nachbarinnen und Bekannten, die sich von ihr ermutigen lassen. Sie ist nicht vom Leben enttäuscht und klagt nicht. Man sieht ihr an, dass sie es nicht leicht hat. Und trotzdem ist sie eine warme und gütige Frau.
Viele Menschen mit einem ähnlich schweren Leben werden bitter und lebensmüde. Verständlicherweise. Ich finde es unglaublich hart, wenn Lebensgeschichten so verlaufen müssen.
Menschen, die trotz allem nicht am Leben verzweifeln, sind Beschenkte. Sie sind bereit, ihr verlustreiches Leben als Geschenk anzunehmen. Verlieren hat sie stark gemacht, weil sie gelernt haben, aus allem das beste zu machen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3874
weiterlesen...