Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Kiesel knirschen unter meinen Füßen. Ich gehe langsam. Im Sonnenlicht glitzern die Pappeln, die immer dastehen, Jahr für Jahr – wie zum Gruß, wenn ich wiederkomme. Es ist still.
Wenn es geht, fahre ich einmal im Jahr zu den Schwestern in den Carmel auf den Berg des Friedens im französischen Burgund. Zu ihrem Kloster gehört ein Gästehaus, das einlädt, sich für ein paar Tage anrühren zu lassen von der Nähe Gottes. Es ist ein Ort, an dem ich die sein darf, die ich bin.
Über der Eingangstür des Klosters steht ein Zitat aus dem Johannesevangelium: „Wir haben die Liebe kennen gelernt und wir glauben an sie.“ Das ist dort keine leere Formel. Die Schwestern fragen nicht woher ich komme. Sie fragen nicht ob ich arbeite oder arbeitslos bin. Sie fragen nicht danach, was ich verdiene, ob ich verheiratet, ledig oder geschieden bin. Sie fragen nicht, was ich glaube und woran ich zweifle. Sie kennen meinen Vornamen und mein Gesicht. Wenn ich wiederkomme, freuen sie sich, dass ich für ein paar Tage die Gemeinschaft mit ihnen teile beim Gebet, bei der Arbeit und beim Essen. So wie ich da bin, bin ich einfach gut. Bin ich wie alle anderen auch: Erwünscht!
Die einzige Bedingung ist, dass ich mich einlasse auf den Rhythmus ihres Alltags und auf die Stille. Schweigend begegne ich den anderen Gästen. Schweigend essen wir gemeinsam. Immer berührt mich, wie alle meine Sinne dabei lebendig werden. Das Essen schmeckt intensiver. Meine Ohren werden aufmerksam auf singende Vögel, summende Insekten, das sanfte Rascheln der Blätter im Wind. Auch Menschen nehme ich anders wahr. Mein Herz kommt zur Ruhe. Ich schlafe so gut wie kaum an einem anderen Ort. Ich fühle mich getragen und gehalten. Ein heiliger Raum.

Heilige Räume können sich überall eröffnen. In der Natur. In der Begegnung mit einem Menschen. In Kirchen. Wenn ich Musik höre. Immer sind es Räume, die ermöglichen, dass ich mich nach innen wenden kann; dass ich in Berührung komme mit der göttlichen Quelle in mir.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3873
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