Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Jetzt ist es wieder so weit. Die Fußballfans singen: „Fußball ist unser Leben!“ und es gibt Menschen, die sind im Ausnahmezustand. Die Europameisterschaft hat begonnen. Wer mit Fußball nicht viel am Hut hat, schaut erstaunt zu.
Ich habe mit Fußball nicht viel am Hut – außer, wenn einer von meinen Söhnen mitspielt. Dann stehe ich manchmal am Spielfeldrand und drücke die Daumen, dass sie gewinnen. Und dann bin ich über-rascht, wie viele Emotionen auf so einem Fußballplatz zu spüren sind: bei den Spielern, und bei den Zuschauern manchmal noch viel mehr. Wie viel Wut, wenn einer einen Fehler gemacht hat, wie viel Enttäuschung, wenn sie verlieren, wie viel Begeisterung, wenn sie gewinnen. Junge Männer und bei den Zuschauern auch die älteren, die sonst ganz cool tun, sich möglichst nicht anmerken lassen, was in ihnen vorgeht – beim Fußball lassen sie alles raus. Sie feiern ihre Freude über einen Erfolg laut und ausgiebig, sie beklagen ihre Niederlagen – meistens genauso ausgiebig und laut. Manchmal denke ich. Auf dem Fußballplatz können sie das Leben wirklich er-leben – im Alltag halten sie sich die Ge-fühle lieber vom Leib, damit sie nicht etwa die Kontrolle verlieren und zu sehen ist, wie es ihnen wirk-lich geht.
Christoph Metzelder, der im EM-Aufgebot der Deutschen Mannschaft steht und der es besser wissen muss als ich, hat das noch drastischer gesagt: „Viele Menschen haben im eigenen Leben überhaupt keinen Halt mehr. Fußball gibt denen dann 90 schöne Minuten. Sie können als Fans aus ihrer Welt und vor ihren Problemen fliehen und manche finden im Fußball tatsächlich ihren Lebensinhalt. Aber dennoch: Der Fußball lenkt dich zwar ab von deinen Problemen, aber er gibt keine Antwort auf deine Probleme. Das ist der große Unterschied zur Religion.“ (Christoph Metzelder, „Gott zeigt sich nicht in 90 Minuten“, Interview in FAZ Nr 117, 20. Mai 2006)
Wahrscheinlich hat er recht. Aber vielleicht kann man es auch so sehen: Wenn Gott doch für Leute wie mich zu meiner Freude die Blumen auf den Sommerwiesen geschaffen hat und die Amseln, die auf dem Dachfirst singen; wenn Martin Luther dankbar war, dass Gott für Genießer wie ihn den Rheinwein geschaffen hat und die Hechte, damit sie Freude am Leben haben: warum nicht auch den Fußball für die Männer, und Frauen, die sonst ihre Gefühle wegdrücken, damit keiner sieht, wie ihnen zumute ist?
Ich hoffe, dass sie auch sonst Gottes Nähe und Zuwendung spüren. Ihnen, Christoph Metzelder und den anderen, die heute Abend spielen, wünsche ich Segen, den Deutschen ein bisschen mehr Glück, dass sie gewinnen und allen Fans Freude an den Spielen der EM.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3848
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