Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Schulen haben zunehmend Probleme mit gewalttätigen, undisziplinierten Schülern. Wen wun-dert´s, wenn dann der Ruf nach konsequenter Erziehung, empfindlichen Strafen und Sicher-heitsmaßnahmen laut wird. Wie Kinder dazu gebracht werden, sich sozialverträglich zu verhal-ten? Verschärfte Aufsicht, konsequent durchgesetzte Regeln und prompte Reaktion auf Verstö-ße – so lautet das Rezept!
Wie erfolgreich solche Maßnahmen sein können, habe ich auf einer Dienstreise erlebt: Ich fuhr in einer deutschen Großstadt in der U-Bahn. An einer Haltestelle stieg eine Schulklasse circa neun- bis zehnjähriger Kinder zu. Die Kinder verteilten sich über den Gang und die freien Plät-ze, ohne Rempeln, ohne Stoßen. Sie wurden auch nicht laut, die meisten schwiegen, einige flüsterten miteinander, auch die Lehrerin senkte ihre Stimme, als sie die Frage einer Schülerin beantwortete. Als sie an ihrem Ziel angekommen waren, stiegen die Kinder gesittet, ohne Drängeln aus und formierten sich auf dem Bahnsteig zu einer Zweierkolonne und warteten auf das Signal der Lehrerin.
So viel Disziplin verschlug mir die Sprache. Es steht ja nicht viel über Kinder in der Bibel. Aber einen Satz kennen wir alle: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder. Bei dieser Schulklasse galt offenbar ein anderes Motto: Wenn ihr nicht werdet wie die Erwachsenen. Genauso stumm, an-gepasst und sorgsam bedacht, niemanden zu stören. Meine Güte, habe ich gedacht, was ist mit diesen Kindern passiert, dass sie nicht in kindlicher Bewegungslust in den Waggon stürm-ten, sich lauthals über drei Sitzbänke hinweg unterhielten und nicht mit ihrer Lebendigkeit an den Nerven der Lehrerin und der übrigen Fahrgäste zerrten? Wenn sie als Kinder schon so dis-zipliniert sind, was soll man dann von ihnen als Erwachsene erwarten? Wird diese Disziplin nicht vielleicht einmal umschlagen? Wird die unterdrückte Lebenslust sich nicht irgendwann Bahn brechen?
Gewiss, disziplinlose oder gar gewalttätige Kinder und Jugendliche sind eine Plage – wenn nicht Schlimmeres. Aber noch schlimmer sind früh dressierte Kinder.
Auch in der Bibel ist hier und da von Züchtigung und Schlägen als Erziehungsmittel die Rede. Aber den entscheidenden Maßstab setzt Jesus mit seinem Satz: Ihr Erwachsenen, werdet wie die Kinder. Erwachsen werden Kinder von alleine - und viel zu früh. Die Kunst besteht darin, sich das Vertrauen und die Freiheit eines Kindes zu bewahren. Das darf man nicht schon den Kindern austreiben. Selbst wenn sie einem in der U-Bahn auf die Zehen treten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3821
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