Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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06JUN2023
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Was ist schlimmer? Nicht sehen oder nicht hören können? Immer wieder haben wir als Jugendliche diese Frage diskutiert. Keine von uns war blind oder gehörlos, und vielleicht sind uns deswegen beide Möglichkeiten gleich schlimm vorgekommen. Trotzdem war für die meisten immer klar, dass sie auf keinen Fall blind sein wollten. Dann lieber taub. Sehen galt als Sinneswahrnehmung Nummer eins. Niemand wollte auf sie verzichten.

Als ich im Studium dann zum ersten Mal blinden und sehbehinderten Kommilitonen begegnet bin, habe ich gemerkt, dass sie mit entsprechenden Hilfsmitteln und einiger Unterstützung ganz gut zurechtgekommen sind. Sie haben mit uns an Vorlesungen und auch am studentischen Leben außerhalb des Hörsaals teilgenommen. Ganz anders als gehörlose Menschen. Denn Gehörlosigkeit schließt erst einmal vom gemeinschaftlichen Leben mit Hörenden aus. Das wird einem schnell klar, wenn man versucht, Blindheit oder Taubheit zu simulieren. Blindheit kann ich nachempfinden: Ich kann die Augen schließen. Aber bei Taubheit funktioniert das nicht! Das Ohr lässt sich nicht schließen, eine geräuschlose Welt kann ich nicht ausprobieren. Heute würde ich bei dem Gedankenexperiment wohl zu dem Schluss kommen: Lieber nichts sehen als nichts hören können.

Von Jesus wird erzählt, dass er Blinden das Augenlicht gegeben, Tauben die Ohren geöffnet und Lahme zum Gehen gebracht hat. Menschen aus ihrer Isolation zu befreien, sie in Gemeinschaft mit anderen zu bringen, war sein Ziel. Heute gibt es dafür auch medizinische Möglichkeiten. Aber viele Gehörlose entscheiden sich gegen einen Eingriff, der ihnen ein Gehör verschaffen könnte. Sie wünschen sich stattdessen, dass die Gebärdensprache, in der sie sich verständigen, als gleichwertig mit anderen Sprachen anerkannt wird. Und wer weiß, vielleicht würde Jesus es heute ja auch einmal andersrum machen: Statt den Tauben ein Gehör zu geben, meine Hände in die seinen nehmen, die Augen schließen und Gott bitten. Und dann meine Hände mit Gebärdensprache begaben. Um mich aus meiner Isolation zu befreien. Und in Kontakt zu bringen mit einer neuen Welt.

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