Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

02JUN2023
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Mein Bruder empfiehlt mir ein Buch. „Musst du lesen“, sagt er und drückt es mir in die Hand. „Das kenne ich gar nicht“, sage ich. Später fang ich dann an mit der Lektüre. Ich merke: Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Ich weiß nicht, wieso. Lese weiter. Dann wird mir klar: Ich hab das Buch tatsächlich schon mal gelesen. Ist was länger her. Aber ich erinnere mich an die Figuren. Auch wenn ich nur noch eine vage Ahnung habe, wie es ausgeht.

Einen Augenblick zögere ich. Will das Buch schon weglegen. Dann aber lese ich weiter. Bin gespannt. Was weiß ich noch, was kommt mir neu vor? Was denke ich heute über das Buch? Ich lese und versinke in die Lektüre. Tatsächlich: Es ist eine neue Erfahrung. Ich wundere mich, dass ich so viel vom Inhalt vergessen habe.

Etwas ein zweites Mal lesen oder machen oder erleben: Das steht nicht hoch im Kurs. Was zählt ist doch das: Etwas neu erleben, zum ersten Mal machen, auf der Liste der unerledigten Erfahrungen abhaken. Zum ersten Mal das Nordlicht sehen. Einen Song das erste Mal hören. Jemandem endlich sagen: „Ich liebe dich.“

Dass aber auch Wiederholungen gut und wichtig sind, davon erzählen die Religionen der Welt. Sie alle, so verschieden sie auch sind, wissen um die Kraft, die das zweite, dritte und x-te-Mal entfalten kann. Den Sonnenaufgang jeden Tag feiern. Sich wieder und wieder an das letzte Abendmahl erinnern. Einmal im Jahr Ostern und Weihnachten erleben. An einem festen Termin immer wieder zu einem besonderen Ort zu gehen.

Religionen kennen viele Formen der Wiederholung. Ganz wichtig: Ich kann mich drauf freuen, obwohl ich weiß, wie alles abläuft. Und: Wiederholungen geben Sicherheit, weil ich weiß, wie alles abläuft. Nicht zu vergessen: Wie bei einem Buch, das ich zum zweiten Mal lese, kann ich auch bei Festen und Feiern Neues entdecken.

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