SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

08MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Schon im Mittelalter gab es Segnungsfeiern für homosexuelle Paare! Das weiß man, weil der französische Philosoph Michel de Montaigne das in seinem Reisetagebuch notiert. Als er im 16. Jahrhundert nach Rom reist, berichtet er von einem Kloster, in dem die Mönche sich untereinander verheiraten. Für Michel de Montaigne ein Skandal! Aber scheinbar war das dort einmal üblich und nicht nur dort.

Es ist nicht ganz sicher, was Michel de Montaigne da genau beobachtet hat. Aber vieles spricht dafür, dass er ein Ritual gesehen hat, das auf Deutsch „Verbrüderung“ heißt. Im 20. Jh. hat John Boswell, Professor im amerikanischen Yale, die Quellen dazu studiert und viele Belege für so ein Ritual gefunden, alte christliche Dokumente. Sie beschreiben einen Gottesdienst, bei dem zwei Männer sich in der Kirche vor dem Priester „verbrüdern“: Sie tauschen Ringe und versprechen sich, dass sie in Liebe zusammenhalten. Dabei halten sie sich gegenseitig an den Händen. Der Priester legt seine Stola um ihre Hände und macht so deutlich, dass sie verbunden sind. Dann führt er sie dreimal um den Altar. Die Gemeinde singt dazu Psalm 133, in dem es heißt: „Seht, wie köstlich es ist, wenn Brüder in Eintracht zusammen sind“. Danach segnet der Priester die beiden.

John Boswell belegt diese Segnungsfeier in mehreren Textversionen aus Ägypten und Rom seit dem 11. Jahrhundert. Die Kirchenoberen haben das Ritual erst viel später verboten. Heute wird es noch von manchen abgetan, als sei das ein Ritual unter Handwerkern gewesen, eine so genannte „Zunftbrüderschaft“. Dabei ist es doch einer Eheschließung sehr ähnlich. Für John Boswell, der selbst homosexuell war, ist klar, dass es hier um eine Möglichkeit geht, wie Menschen im Mittelalter als Christen homosexuell leben konnten.

Wenn das wirklich stimmt, dann hätte die Segnung von homosexuellen Menschen eine mehr als jahrhundertelange Tradition. Und Tradition ist in der katholischen Kirche ein starkes Argument.

Wenn aber nur John Boswells Wunsch der Vater des Gedankens wäre, so wäre es doch gut gewünscht. Und es wäre an der Zeit, so einen Segen einzuführen. In meinen Augen gibt es keinen Grund, warum die Liebe von Menschen nicht gesegnet werden sollte. Wie die Autoren der Bibel sagen: Wo die Liebe ist, da ist Gott.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37627
weiterlesen...