SWR2 Wort zum Tag

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24APR2023
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Fidelis Waldvogel ist eine Romanfigur der amerikanischen Autorin Louise Erdrich. Zum einen hätte diese Figur heute Namenstag, denn heute ist „Fidelistag“. Und zum zweiten hat sie mir die Augen geöffnet, als ich das Buch gelesen habe. Es heißt „Der Gesang des Fidelis Waldvogel“ und spielt in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Alle haben Hunger, weil Lebensmittel Mangelware sind. Aber irgendwie kommt Fidelis Waldvogel über sieben Ecken an einen ganzen Laib Brot – schon das ein kleines Wunder. Und es ist nicht irgendein Brot, sondern es ist ein unglaublich schönes Brot. Offensichtlich mit großer Sorgfalt geformt. Fidelis betrachtet den präzisen Umriss. Er staunt über die Hefeverarbeitung und das gleichmäßige Goldbraun der Kruste. Er kommt zu dem Schluss: „Das ist mehr als ein Brot: es ist ein Kunstwerk!“ Klar, er hat Hunger, und dann betrachtet man ein Brot anders, als wenn man satt ist. Aber es ist noch mehr. Dieses Brot löst etwas in ihm aus – eine Sehnsucht, die er zunächst nicht genauer bestimmen kann.

Fidelis Waldvogel forscht nach, wo dieses besondere Brot herkommt. Er möchte wissen: Wo wird ein einfaches Brot so sorgfältig hergestellt? Bald findet er heraus, dass es von Bekannten seiner Eltern stammt, und dass diese es mit einem Päckchen aus den USA bekommen haben - aus der Stadt Argus in North Dakota. Fidelis schreibt den Ortsnamen Buchstabe für Buchstabe auf einen Zettel: A R G U S. Und diesen Zettel trägt er in den nächsten Monaten ständig bei sich.

Irgendwann beschließt Fidelis auszuwandern. Nicht nur weil das Überleben im Nachkriegsdeutschland immer schwieriger wird, sondern auch, weil ihn der Gedanke an das perfekte Brot nicht mehr loslässt. Und damit ist auch klar, wohin ihn seine Reise führen soll: Nach Argus - dorthin, von wo das sorgfältig hergestellte Brot stammt.

An dieser Geschichte wird für mich deutlich, dass Brot nach mehr schmecken kann, als nur nach seinen Zutaten. Ein frisches Baguette zum Beispiel beamt mich auf einen Campingplatz in Frankreich, ein Pumpernickel zu diesem langweiligen Stehempfang nach einem noch langweiligeren Vortrag. Brot kann danach schmecken, sich zu versöhnen, nach einer geselligen Runde, nach einer Wanderung, wo wir das letzte Stück geteilt haben, um noch ein bisschen extra Energie für die letzten Kilometer zu bekommen, nach dem Wunsch, jemanden wiederzusehen, oder eben nach irgendwohin aufzubrechen, wie Fidelis Waldvogel.

Wenn Christen im Sonntagsgottesdienst vom Heiligen Brot essen, dann ist das auch mehr, als nur eine Backware zu sich zu nehmen. Es kann auch in mir eine Sehnsucht wach halten. Nicht unbedingt nach einem Reiseziel, aber nach einem sinnvollen und erfüllten Leben. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37517
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