SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

24MRZ2023
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Geht es im christlichen Glauben wirklich um „die“ Wahrheit? Ist es das Wichtigste, Recht zu haben? Und bevor Sie jetzt sagen: Natürlich geht es nicht nur darum, Recht zu haben: Um was geht es denn? Ich sage: Es geht um heilende Liebe, die berührt, die Augen öffnet und uns zu Mitmenschen macht. Und ich finde, dass das in einer Erzählung über Jesus eindrücklich gezeigt wird (Markus 8,22-26):

Ein Blinder wird von einigen Mitmenschen zu Jesus gebracht. Sie bitten Jesus, ihn zu berühren. Das wird nicht umsonst so erzählt: Es geht darum, dass jemand von Gott, von Gottes Liebe und Kraft berührt wird und so ein Mitmensch für andere wird. Ich persönlich habe viel zu oft religiöse Menschen erlebt, die mich nur mit ihrer Wahrheit in Berührung bringen wollten, aber nicht mit Gottes heilender Liebe.

Es ist tatsächlich berührend, was Jesus nun tut. Er nimmt den Blinden an der Hand und führt ihn weg von allen anderen. Der Blinde ist immer noch blind, aber er ist berührt und geführt.

Erst als sie ganz unter sich sind, berührt Jesus die Augen des Blinden und fragt dann: „Kannst du etwas erkennen?“ – Der Blinde antwortet. „Ja, ich sehe. Ich sehe die Menschen. Aber ich sehe sie unklar, wie Bäume.“ Und da weiß Jesus, dass das, was er mit uns Menschen will, bei diesem Menschen noch nicht erreicht ist.

Dass jemand „die Wahrheit“ erkennt, getauft ist, sonntags in der Kirche, in Meditation geübt, vertraut mit der Tradition, bibelfest und sicher im Sprechen des Glaubensbekenntnisses – alles schön, aber nicht das Ziel. Jesus will offenbar, dass Menschen andere Menschen als Menschen sehen.

Im konkreten Fall legt Jesus seine Hände noch einmal auf die Augen, öffnet sie vollständig. Und jetzt kann der ehemals Blinde nicht nur sehen, sondern alles gut erkennen. Alles heißt: Die Menschen wie sie sind: Gutes und Schlechtes, Unterschiede, Liebenswertes und Verwunderliches…

Jesus, Gott, gibt sich nicht damit zufrieden, wenn ich die Menschen nur „so allgemein“ sehe. Er führt auch mich, solange ich (im übertragenen Sinne) blind bin für andere Menschen, und er öffnet mir die Augen. Manchmal klappt das nicht beim ersten Mal. Aber Gott gibt nicht auf. Geführt und berührt von ihm komme ich dahin, dass ich Menschen als Menschen sehe. Und selbst ein Mitmensch bin… Denn darum geht es. Wirklich.

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