SWR3 Gedanken

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14MRZ2023
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Mit einer Gruppe von Motorradfahrern bin ich unterwegs nach Vézelay. Ein Wochenende durchs Burgund kurven, Frankreich genießen und die Seele baumeln lassen. Das geht in dem mittelalterlichen Städtchen besonders gut, finde ich. Es ist auf einen Hügel gebaut und ganz oben ist eine alte gotische Kathedrale. Ich war schon öfter dort, und deshalb weiß ich, dass um 18 Uhr ein Abendgebet stattfindet, das sich lohnt. Neben der Kathedrale wohnen Nonnen und Mönche. Sie nennen sich „Gemeinschaft von Jerusalem“ und treffen sich drei Mal am Tag, um in der Kirche zu beten und zu singen. Und genau deshalb treibe ich meine Bikergruppe ein bisschen an: Wenig Pausen und nicht rumtrödeln, ich will pünktlich sein.

Kurz vor sechs parken wir direkt vor der imposanten Kirche und steigen noch etwas steif von der Fahrt die Treppenstufen zum Hauptportal hoch. Drinnen ist es schon schummrig. Ich lasse mich gerade auf einer knarzenden Holzbank nieder, da gehen vorne die Lichter an, und das Abendgebet beginnt. Es ertönt ein Gesang, der direkt aus dem Himmel zu kommen scheint – so schön ist er. Mehrstimmig und glockenrein. Diese Musik trifft mich mit voller Wucht: Gänsehaut, der Stress der Fahrt fällt von mir ab, Tränen steigen auf, ich bin dankbar für alles: für meine Familie, für die Natur, für die Menschen, die diese Kathedrale erbaut haben. Und ich bin überwältigt, weil die da vorne so schön singen.

Früher dachte ich, dass Ordensleute statt zu beten lieber den Menschen helfen sollten, Kranke versorgen oder Suppe für Obdachlose kochen, was ja viele auch tun. Aber die Ordensleute von Vézelay haben sich nur dem Singen verschrieben. Sie haben extra Proben und Gesangsunterricht und singen einfach nur, um Gott zu loben. Und vielleicht auch, um Menschen wie mich anzurühren und ein Stück vom Himmel zu zeigen.

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