SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

31JAN2023
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Ein Schüler wird zu mir geschickt. Die Lehrer beobachten, dass er sich nicht im Unterricht beteiligt, keine Arbeitsmaterialien dabeihat und oft fehlt. Ich bin der Schulleiter. Also schicken sie ihn zu mir. Für das Gespräch habe ich ihn mit seiner Mutter in mein Büro eingeladen. Er ist höflich, aber er wirkt unbeteiligt. Mein erster Gedanke ist, dass er uns Erwachsene provozieren will. Typisch Pubertät. Ein Junge mit Null-Bock-Haltung. Am Anfang frage ich bei solchen Gesprächen meistens zuerst die Eltern, wie sie ihre Kinder zuhause wahrnehmen. Diese Frage habe ich auch seiner Mutter gestellt und das hat alles verändert. Die Mutter hat geantwortet, dass ihr Sohn es momentan schwer hat und dass er sehr traurig sei. Und er hat erzählt, dass sein Vater vor zwei Monaten gestorben ist. Das hat mich richtig getroffen. 

Wir haben dann darüber gesprochen, wie sich dieses Traurigsein anfühlt und wie er wieder aus dem schwarzen Loch herauskommt, das er gerade fühlt. Ich habe versucht mit ihm eine andere Perspektive zu finden. Wir haben überlegt, auf was sein Vater stolz wäre, wenn er in einem Jahr vom Himmel herab auf ihn schauen könnte. Ich wollte ihn so für neue Ziele öffnen. Ob das gelungen ist, weiß ich nicht.

Was mich im Nachhinein aber noch beschäftigt hat, ist mein Vorurteil gewesen, dass ich mir so schnell gebildet habe. Zum Glück habe ich am Anfang des Gesprächs noch routinemäßig nachgefragt, was zuhause los ist und wie es ihm geht. Innerlich war ich zu dem Zeitpunkt aber noch darauf eingestellt, dass ich es mit einem jungen Menschen zu tun habe, der rebelliert. Ich habe mich also schnell auf ein Vorurteil festgelegt und nur mein Nachfragen am Beginn des Gesprächs hat das Gespräch in eine gute Richtung gelenkt.

Ich habe mir vorgenommen, mir in Zukunft noch stärker bewusst zu machen, wo ich so vorschnell urteile. Vor allem, wenn es um junge Leute geht, aber auch bei allen anderen. Was ich beobachte, ist das eine. Wenn ich dann schnell Schlüsse daraus ziehe, ist das etwas Anderes. Das muss nicht sein.

Gerade, wenn es um ein Verhalten geht, das mir nicht gefällt oder das unangenehm ist, andere haben es verdient, dass ich nicht voreilig urteile. Ich finde das besonders bei jungen Menschen wichtig, weil ich da schnell den typischen Klischees auf den Leim gehe, anstatt an den guten Kern im Menschen zu glauben. Dabei gibt es doch meistens verständliche Gründe, warum jemand sich so verhält, wie er es tut. Es hilft, wenn ich nachfrage.

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