SWR2 Wort zum Tag

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19JAN2023
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Ich überfliege die Kontakte in meinem Smartphone.

Ich bin in einer Online-Fortbildung und habe gerade den Auftrag bekommen: Schicke die folgenden beiden Fragen per Messenger an jemanden aus deinem Adressbuch.

Erstens: „Vor wem hast du Respekt?“

Und zweitens: „Was findest du respektlos?“

Ich überlege kurz und entscheide mich dann für einen guten Freund, tippe die zwei Fragen ein und schicke sie ab. Ob er es komisch findet, dass ich ihn das mitten im Alltag einfach so frage? Egal, ich kann´s ihm ja später erklären. Die Fortbildung geht weiter und ganz am Ende kommen wir auf die beiden Fragen zurück. Jeder soll in den Chat schreiben, welche Antworten zurückgekommen sind. Ich schaue auf mein Smartphone und entdecke eine Sprachnachricht.

Mein Freund findet die Frage voll spannend und hat erstmal nachdenken müssen.

Respekt hat er vor Menschen, die etwas Besonderes leisten, vor allem wenn es etwas ist, was er selbst nicht könnte, z.B. sich auf einem Gebiet großes Wissen anzueignen oder körperliche Höchstleistungen zu erbringen.

Respektlos dagegen findet er es, wenn jemand ihn spüren lässt, dass er etwas besser kann oder weiß. Konkret denkt er dabei an einen Professor an seiner Uni. Zum Schluss bedankt er sich, dass ich ihn um seine Meinung gebeten habe. Auch das ist für ihn ein Zeichen von Respekt.

Einige Tage später spreche ich mit einem Kollegen, der schon länger als Seelsorger in der Psychiatrie arbeitet. Er sagt mir, wie groß sein Respekt vor den Patienten ist, denen er dort begegnet. Viele von ihnen haben eine lange Krankheitsgeschichte, oft ausgelöst durch ein traumatisches Erlebnis. Manchmal sagt er ihnen dann direkt: „Ich bewundere Sie, wie Sie hier vor mir sitzen, trotz allem, was sie durchgemacht haben – wie Sie Ihr Leben trotz Ihrer Krankheit und all den Schwierigkeiten leben. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“

Irgendwie interessant: mein Kollege und mein Freund haben beide Respekt vor Personen, die etwas Besonderes leisten. Dabei haben sie aber zunächst einmal vermutlich ganz unterschiedliche Menschen vor Augen. Mich macht das nachdenklich. Vor wem habe ich Respekt? Da gibt es die, die allgemein bewundert werden und angesehen sind. Und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die Enormes leisten, was auf den ersten Blick verborgen bleibt.

Wie schnell kann es passieren, dass ich Menschen gegenüber respektlos bin, weil ich ihre Geschichte nicht kenne? Und sei es auch nur, wie ich über sie denke, ohne zu wissen, was sie in Wirklichkeit jeden Tag leisten.

Für mich heißt das, aufpassen. Ich möchte nicht respektlos sein. Und das heißt für mich, allen Menschen erst einmal mit dem größtmöglichen Respekt begegnen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36921
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