SWR2 Zum Feiertag

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01NOV2022
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Ein Gespräch mit Prof. Dr. Volker Drecoll, Tübingen

Rittberger-Klas: Allerheiligen ist als Feiertag in der katholischen Tradition fest verwurzelt. In evangelischen Gegenden spielt der Tag heute dagegen keine Rolle. Gibt es aber auch für evangelische Christen an Allerheiligen etwas zu feiern? Darüber spreche ich heute mit Prof. Volker Drecoll. Er lehrt Kirchengeschichte an der Evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen.
Herr Prof. Drecoll, hat für Sie persönlich, als evangelischer Christ und Pfarrer, der Tag heute eine Bedeutung?

Drecoll: Für mich hat natürlich eher der Vorabend des Allerheiligenfestes Bedeutung, das ist ja das Reformationsfest. Und das Reformationsfest ist ja kein eigenes Datum, sondern eben wirklich der Vorabend von Allerheiligen, weil sich die Reformation ja auch an der Heiligenverehrung unter anderem entzündet hat. Als Pfarrer habe ich das immer so gemacht, dass ich den katholischen Kollegen gefragt habe, ob er mit mir zusammen den Vorabend von Allerheiligen feiern möchte, weil nämlich das Evangelium des Reformationstages das gleiche ist wie das von Allerheiligen, nämlich die Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium. Und das hat immer sehr gut funktioniert. Der katholische Kollege hat dann zum Reformationsfest in unserer evangelischen Kirche gepredigt über die Reform der Kirche und ich umgekehrt dann in der Katholischen Kirche im nächsten Jahr, wenn es darum ging, warum man überhaupt damals Reformation gewollt hat.

Rittberger-Klas: Also, es gibt Annäherungen, es gibt Gemeinsamkeiten, aber der Ursprung war ja schon ein Gegensatz. Die Reformatoren haben die Heiligenverehrung scharf kritisiert und die Heiligen damit quasi aus der evangelischen Kirche verbannt. War das in der Radikalität nötig?

Drecoll: Ich würde sagen: Auf der einen Seite ja, weil die Heiligenverehrung ja schon Züge angenommen hat, dass man einen Mittler brauchte, um überhaupt zu Gott zu kommen, also indirekte Umwege. Das entspricht nicht der Theologie, die man jetzt heute auch vorfindet beim katholischen Partner. Und man muss auch sagen: Die Evangelischen haben ja nicht die Heiligenverehrung komplett abgeschafft. Die Apostelfeste oder die Marienfeste sind ja auch in die lutherischen Kirchenjahresplanungen alle mit drin.

Rittberger-Klas: Nicht sehr bekannt oft bei den evangelischen Gemeinden. Aber eigentlich kann man das feiern und teilweise wird es auch gefeiert.

Drecoll: So ist es – also etwa Peter und Paul, aber auch die Marienfeste. Und zwar, weil es eigentlich Christusfeste sind, diese Feste sind nicht deshalb interessant, weil man Heilige verehrt, sondern weil man von den Heiligen aus darauf verweist, was Christus mit ihnen und an ihnen getan hat. Also insofern, als abgeleitete Christusfeste, sind sie auch im evangelischen Kalender da und darin besteht auch eine Übereinstimmung mit den katholischen Partnern.

Rittberger-Klas: Trotzdem spielen die Heiligen keine große Rolle in der evangelischen Kirche. Und man kann sich ja schon fragen, ob dadurch nicht auch etwas fehlt. Es gibt ja vielleicht auch ein urmenschliches Bedürfnis nach Vorbildern. Und es kann ja nicht schaden, wenn Kinder im November beim Laternelaufen auch die Geschichte vom Heiligen Martin hören, der seinen Mantel geteilt hat?

Drecoll: Ja, das schadet sicher nicht. Bei den Vorbildern würde ich sagen: Da haben die evangelischen auch so ihre eigenen Vorbilder entwickelt. Wie viele Martin-Luther- und Dietrich-Bonhoeffer-Kirchen gibt es denn bei uns. Da sind doch einige Leute auf den Sockel gehoben worden, weil dieses Bedürfnis nach Vorbildern da ist.

Rittberger-Klas: Aber ich höre heraus: Sie sehen das auch ein bisschen kritisch?

Drecoll: Na sicher! Menschen sind ja Menschen. Also Vorbilder sind dann vielleicht vorbildlich, wenn man gerade auch erkennt, welche Schwierigkeiten sie haben und dass sie eben nicht in allem vorbildlich sind. Und insofern, würde ich immer sagen, ist die Betrachtung anderer Christenmenschen für uns deswegen ein Trost, weil man sieht: Naja, so perfekt und vorbildlich sind sie dann auch nicht.

Rittberger-Klas: Die starken Auswüchse der Heiligenverehrung, die man im Spätmittelalter beobachten konnte, die inzwischen ja auch katholischerseits kritisch gesehen werden und von denen man auch wieder weggekommen ist, die haben sich in der Geschichte der Kirche ja erst allmählich entwickelt. Woher kam das? Und wie hat das überhaupt begonnen mit der Heiligenverehrung in der Kirche?

Drecoll: Ja, man hat schon relativ früh in der Alten Kirche, so im 4./5. Jahrhundert, zum Beispiel Heilige sehr nah an den Altären bestattet. Einfach in der Idee, dass dort, wo der Altar ist, das Heilige präsent ist, und die Heiligen dann einfach näher dran sind, ganz physisch, räumlich. Und genauso hat man dann angefangen, Berührungsreliquien zu benutzen, also etwa Tücher draufzulegen auf den Sarkopharg eines Heiligen oder einer Heiligen, und die dann mitzunehmen, in der Hoffnung, dass dadurch irgendwie Heiliges mitnehmen kann. Oder Öl, oder Wasser, das man da durchlaufen lässt, das man etwas zum Mitnehmen hat, etwas Handfestes. Das ist ja eigentlich so eine ganz räumlich-dingliche Vorstellung des Heiligen, mit der ich persönlich wenig anfangen kann, aber andere können damit vielleicht etwas anfangen. Man muss nur aufpassen, dass dadurch nicht eine Verdinglichung des Glaubens stattfindet, nach dem Motto: Hauptsache, du hast dieses Öl oder diese Berührungsreliquie, dann geht es dir gut. Weil: das ist nicht das Zentrum des christlichen Glaubens.

Rittberger-Klas: Die Heiligen und ihre Legenden spielen in der evangelischen tatsächlich eine untergeordnete Rolle, aber die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“, die ist ja durchaus wichtig und präsent. Und ich habe den Eindruck, dass diese Formulierung, vielleicht heute besonders, erklärungsbedürftig ist. Viele sehen, was in der Kirche schiefläuft, und fragen sich, wie wir mit dem Anspruch rumlaufen können, eine „Gemeinschaft der Heiligen“ zu sein. Was bedeutet das?

Drecoll: Ja, die Gemeinschaft der Heiligen, die bekennen wir ja auch zum Beispiel auch im apostolischen Glaubensbekenntnis. Und damit ist jetzt natürlich nicht gemeint, dass zum Beispiel die Evangelische Landeskirche in Württemberg oder alternativ dazu die römisch-katholische Diözese Rottenburg-Stuttgart die heilige Kirche ist und außerhalb derer gibt es keine Heiligen. Sondern die Gemeinschaft der Heiligen ist immer die unsichtbare Gemeinschaft, die von Gott aus für heilig betrachtet wird, obwohl sie, für sich genommen, nicht so heilig ist. Also ich würde immer sagen, evangelischerseits sind wir nur deshalb heilig, weil Christus uns für heilig erachtet, nicht weil wir selbst heilig sind. Das sind wir nicht.

Rittberger-Klas: Das heißt, Heiligkeit ist keine Eigenschaft, ein besonders gutes Leben, das man führt, oder etwas, das man an sich hat oder tut, sondern eher eine Frage der Gottesbeziehung?

Drecoll: Genau. Bei Luther ist es auch immer so, dass man unterscheidet: Den Menschen für sich, wie er jetzt in der Welt dasteht, zu seiner Familie, in seinem Beruf, in der Gesellschaft – und da wird der Mensch, wenn er sich aufmerksam betrachtet, feststellen, dass er an vielen Stellen irgendwie Teil ist von Relationen ist, die nicht gut sind, die zumindest verbesserungswürdig, wenn nicht schuldbeladen sind. Aber umgekehrt davon ist da eben noch eine Perspektive, die zu Gott noch besteht. Die ist davon unterschieden. Und die bestimmt sich ganz davon, wie Gott uns betrachtet. Und Gott betrachtet uns eben nicht so, wie wir im Klein-Klein unseres Alltags oder in den großen Linien unseres Lebens versagen, sondern er betrachtet uns als wären wir heilig. Und damit setzt er eine Wirklichkeit, die sich uns natürlich nicht so schnell erschließt, weil sie in unserem Leben so nicht gegeben ist.

Rittberger-Klas: In der katholischen Tradition wird der Allerheiligentag oft mit dem Allerseelentag – eigentlich der 2. November – verbunden. Dadurch ist er stark mit dem Gedenken an die Verstorbenen verknüpft. Was bedeutet es im Blick auf den Tod, dass Christen sich als „Gemeinschaft der Heiligen“ verstehen?

Drecoll: Der Tod beendet diese Gemeinschaft der Heiligen natürlich nicht, sondern die Toten gehören zu der Gemeinschaft der Heiligen dazu wie die Lebenden, der Gemeinschaft der Toten und der Lebenden, die eines Tages auferweckt werden wird. Wir Evangelischen beten ja nicht direkt für die Toten, weil wir sagen, dass Christus sich genug um sie kümmern wird, aber es ist so, dass wir natürlich auch mit unserer Trauer da sind und mit dieser Trauer um Menschen, die uns fehlen, vor Gott treten und deswegen am Totensonntag etwa auch an die Ewigkeit denken.

Rittberger-Klas: Das gibt es auch wieder eine Verbindung zu den herausgehobenen Heiligengestalten. Das sind ja auch Menschen, deren Lebensgeschichten von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Und die verbinden letztlich uns Christen heute ja auch mit den Christen früherer Generation, die in ihrer Zeit, in ihrem Umfeld eben versucht haben, Christsein authentisch zu leben. Ist diese Verbindung Ihnen als Kirchengeschichtler auch besonders wichtig?

Drecoll: Ob als Kirchengeschichtler weiß ich nicht – aber natürlich ist es so, dass ein Großteil er Figuren, mit denen ich mich beschäftige, sind später als besonders heilig oder besonders unheilig betrachtet worden. Und es ist tatsächlich für mich auch ein Gedanke, der mir wichtig ist: Dass die Kirche sich über alle Kontinente dieser erstreckt, aber dass sie sich auch zeitlich erstreckt, über 2000 Jahre jetzt. Und dass man auch dort eine Form der Gemeinschaft hat, über die Zeiten und Jahrhunderte hinweg.

Rittberger-Klas: Wenn Sie sich persönlich einen Lieblingsheiligen oder eine Lieblingsheilige aussuchen sollten, wer wäre das? Und warum?

Drecoll: Na, aus evangelischer Sicht würde man dazu doch sagen: Immer der Mensch, mit dem man es gerade zu tun hat. Also im Moment wären Sie das. Weil das ja immer die erste Aufgabe ist, den Menschen, mit dem man gerade zu tun hat, so zu betrachten, wie er von Christus aus betrachtet wird. Nicht so, wie er wirklich ist, sondern so, als wäre er eben schon heilig. Aber wenn Sie mich historisch fragen würden, dann würde ich vorne anfangen – vielleicht bei Paulus oder so.

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