SWR2 Wort zum Tag

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27OKT2022
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Ich bin auf der Einschulung meiner Nichte gewesen, und dort bin auf eine alte Geschichte gestoßen, die ich dieses Jahr mit ganz neuen Ohren gehört habe. Die Kinder der dritten Klasse haben ein kleines Theaterstück aufgeführt. Es heißt „Frederick“ von Leo Lionni. Ich kenne die Geschichte aus meiner eigenen Kindheit. Sie handelt von einer Familie von Feldmäusen. Der Inhalt ist schnell erzählt.

Im Herbst sammeln die Mäuse fleißig Vorräte für den Winter - alle außer Frederick, der arbeitet anscheinend nichts. Als sich die anderen beklagen, antwortet er: Ich sammle ebenfalls Vorräte für den Winter: Sonnenstrahlen, Farben und Wörter. Als es dann im Winter kalt ist, und die Essenvorräte der anderen Mäuse immer weniger werden, erinnern sie sich an Fredericks Vorräte und fragen ihn danach. Da bittet er sie, ihre Augen zu schließen. Dann erzählt er ihnen von den Sonnenstrahlen, und den kleinen Mäusen wird warm. Er beschreibt die Farben des Sommers so eindrücklich, dass die anderen sie bildlich sehen können, und mit den gesammelten Wörtern trägt er ihnen ein Gedicht vor. Am Ende sind alle begeistert und klatschen.

Die Geschichte ist nett für Kinder und vermutlich geht sie auch vielen Erwachsenen zu Herzen. Aber wie klingt sie heute für die, deren Geld am Monatsende nicht mehr zum Einkaufen reicht und deren Wohnung kalt ist? Ich könnte jeden verstehen, der diesem Frederick sagen möchte: „Hättest du mal lieber mit dafür gesorgt, dass wir genug zu Essen haben. Auf deine warmen Worte kann ich gerne verzichten. Davon werde ich auch nicht satt.“

Und trotzdem glaube ich, dass etwas Wahres in der Geschichte steckt. Ich bin überzeugt, dass es Menschen wie Frederick braucht, gerade auch in Zeiten, in denen materielle Not herrscht.

Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt – nämlich dann, wenn sie gefragt sind – die richtigen Worte finden. Worte, die anderen Menschen helfen, sich daran zu erinnern, was ihr Leben hell und warm macht. Worte, die das Alltagsgrau zurücktreten lassen, um die Buntheit und die Farben sehen zu können, die das eigene Leben trotz allem noch bereithält. Worte, die sie hoffen und glauben lassen, dass wieder andere, bessere Zeiten kommen.

Ich weiß, das alles lindert nicht die materielle Not. Wenn es nur Fredericks gäbe, dann wären die Feldmäuse jämmerlich verhungert. Ich will die Macht der guten Worte nicht überschätzen, aber ihre Stärke auch nicht kleiner reden als sie ist. Wir brauchen beides: etwas, das unseren Körper nährt und wärmt und etwas, das unseren Seelen Kraft und Energie gibt.

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