SWR2 Wort zum Tag

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20OKT2022
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Jedes Jahr von neuem packt mich in diesen Tagen ein heftiger Oktober-Blues. Meine Stimmung sinkt in den Keller. Da können die Tage noch so golden sein. Ich lasse das Leuchten nicht an mich heran. Stattdessen werfe ich den Tagen vor, dass sie immer kürzer werden. Mit Grausen zähle ich sie herunter, bis zu jenem letzten Samstag im Oktober, an dem die Uhren nachts wieder verstellt werden und es noch früher dunkel sein wird. Das im Gegenzug geschenkte Tageslicht am Morgen lasse ich nicht gelten. Missmutig schaue ich auf die mit welkem Laub übersäte Terrasse, auf der ich nicht mehr sitzen kann.

Ein Oktober-Gedicht von Erich Kästner schlägt zunächst denselben Ton an: „Fröstelnd geht die Zeit spazieren. Was vorüber schien, beginnt. Chrysanthemen blühn und frieren. Fröstelnd geht die Zeit spazieren. Und du folgst ihr wie ein Kind.“ Ja, genau. Frierend und schmollend gehe ich durch die Tage. Wie ein Kind, das die Mutter hinter sich herziehen muss. Aber ungefähr in der Mitte des Gedichts stolpere ich dann über zwei Zeilen, die mich aufhorchen lassen und auf andere Gedanken bringen. Da steht: „Lass den Herbst nicht dafür büßen, dass es Winter werden wird.“  Ich fühle mich ertappt. Denn genau das ist ja der Kern meines Oktober-Blues: Ich werfe dem Herbst, einer an sich unschuldigen Jahreszeit, vor, dass sie den Winter einläutet. Und damit beraube ich sie all ihrer Chancen, eine Zeit mit eigenem Charme sein zu dürfen. Ihre ganze Schönheit verliere ich aus den Augen, weil ich sie nur als Vorboten von etwas anderem, Üblem, erkennen will.

So eine gedrückte Stimmung nehme ich gerade an vielen Orten wahr. Viele reden vom bevorstehenden Winter. Wie eine dunkle Gewitterwand beherrscht er die Nachrichten. Was werden wir essen, was werden wir arbeiten, wie werden wir uns kleiden und womit werden wir heizen?  Notwendige Fragen, gewiss. Aber sie sind es nicht wert, uns jede Freude an ganz gegenwärtigen Augenblicken zu nehmen. Sie dürfen die lodernden Herbstfarben nicht mit ihrem bleigrauen Schleier verhängen.  

„Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Monat seine eigene Plage hat.“ Dazu hat Jesus in der Bergpredigt geraten. Und ich übersetze es mir noch einmal in den Worten von Erich Kästner: „Lass den Herbst nicht dafür büßen, dass es Winter werden wird.“

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