SWR3 Gedanken

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20OKT2022
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Auf meinem Heimweg komme ich immer an unserem Stammbäcker vorbei. Und heute liegt ein Mann davor. Im Rinnstein, zwischen parkenden Autos und einem Alleebaum. Der Kopf auf dem Pflaster. Um ihn herum Plastiktüten, halbleere Flaschen, Wein aus dem Tetrapack. Auf der Brust ein angebissenes Brötchen. Der Mann trägt zerschlissene und schmutzige Kleider. Ein übler Geruch geht von ihm aus. Im Vorbeigehen konzentriere ich mich kurz auf seine Brust. Sie hebt und senkt sich. Ich bin erleichtert: Er atmet. Er lebt. Und dann gehe ich hinein: „Entschuldigung! Haben sie den Mann…“ Aber die junge Verkäuferin lächelt mich an und unterbricht mich gleich:  „Ach, sie meinen den Mann da draußen. Der ist immer da. Sie sind nicht die erste die fragt.“ Und mit einem Blick auf das Handy, das ich mittlerweile in der Hand halte, meint sie:  „Sie brauchen niemanden anzurufen. Die kommen sowieso nicht mehr. Der ist hier bekannt.“„Haben sie denn gesehen, seit wann der Mann so da liegt?“ frage ich weiter. Die Frau nickt: „Der macht nur seinen Mittagsschlaf. Eben war er wach – jetzt schläft er wieder. Machen sie sich keine Sorgen - Ich pass schon auf ihn auf.“

Ich pass schon auf. Selten hat mich ein Satz so berührt. Die Angestellte in der Bäckerei war vielleicht Anfang 20. Klein und zierlich – eine schöne junge Frau. Der Satz ging ihr leicht von den Lippen, ganz selbstverständlich – und er war ernst gemeint, das spürte man. Sie passt auf ihn auf – und das Brötchen, auf der Brust des Mannes, das hat sie ihm sicher auch gegeben.

Ein Stück Frieden – denke ich. Hier findet es statt. Aufgespannt zwischen Bäckerei und Rinnstein. Zwischen dieser junge Frau und dem alterslosen Obdachlosen. Die Welt zwischen den beiden ist nicht heil. Hier ist nicht alles gut. Keine Idylle. Der Schmutz bleibt. Die Armut. Der Skandal, dass es in unserer reichen Gesellschaft Menschen gibt, die auf der Straße leben müssen. Aber hier guckt eine hin. Passt auf. Nimmt Verantwortung wahr. Und das tröstet mich.

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