SWR1 Begegnungen

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16OKT2022
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Gerhard Marcel Martin Foto: privat

Peter Annweiler trifft Gerhard Marcel Martin, Theologieprofessor und Autor des Buches „Sehnsucht leben

Sehnsucht – ein Unruheherd?

An ihm hat mich immer beeindruckt, wie kreativ und weit er denken kann und dabei doch genau bleibt. Schon als ich bei ihm studiert habe, hat mir gefallen, wie der Marburger Theologieprofessor Religion mit Kultur und Psychologie im Gespräch hält. Jetzt habe ich ihn wieder besucht, weil er ein Buch über Sehnsucht geschrieben hat. In seinem Spätwerk hat sich dieses Motiv immer öfter bemerkbar gemacht, sagt er – und lädt ein, genauer hinzuschauen.

Sehnsucht ist so weit zu fassen als Phänomen, dass sie eigentlich ne Unruhe, einen Unruheherd in allen Lebensbereichen ist.

„Unruheherd“? –  Sehnsucht gibt sich nicht mit dem zufrieden, was ist. Sie treibt mich weg von dem, was mich im Moment umtreibt – und führt mich zu dem, was womöglich wesentlich ist. Ja, so passt es für mich auch in unsere Tage:  Gerade wenn ein Krieg grausam wütet, wird meine Sehnsucht nach Frieden erst recht geweckt!

Wohin zielt die Sehnsucht: Kann Sehnsucht gestillt werden oder ist sie unstillbar? Und ich gehe davon aus, dass Sehnsucht tatsächlich nicht erfüllt wird. Aber alles beginnt mit der Sehnsucht- und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Sehnsucht richtet sich also auf ein unerreichbares Ziel. Vielleicht ist sie wie ein Motor, der auch in verzwickten Zeiten und nach schweren Enttäuschungen am Laufen bleibt. Ihre Geschwister Optimismus und Hoffnung scheinen ihr gegenüber schneller am Ende. 

Optimismus ist ziemlich „pausbackig“, oft – und lässt den Schmerz  draußen. Hoffnung ist schon sehr viel aufgerauhter und enttäuschbarer und offen, während Sehnsucht demgegenüber geradezu diffus und unbestimmt ist, was aber auch ihre Stärke ist.

Ich weiß es ja von mir: Schmerzhaft ist mein Optimismus zerbrochen,  dass dieser Krieg schnell vorbei gehen kann. Und meine Hoffnung, dass es nicht so viele Tote geben möge, war schnell zerstört. Meine Friedenssehnsucht aber lebt noch.

Darin ist Sehnsucht womöglich auch wie eine Bewegung auf Gott hin – sie führt nicht auf ein behagliches Ruhekissen, sondern ist ein Unruheherd, der mich davor bewahrt, zu schnell zufrieden und beruhigt zu sein. Sie ist also auch ein Motor, nicht aufzugeben.

Und das ist die Dynamik der Sehnsucht, die auch dazu antreibt, es also nicht bei der inneren Erfahrung sein zu lassen und auch dazu ermuntert, in den sozialen Aktivitäten andere Spuren, einen Tiefgang, einen spirituellen, aber auch einen politischen, zu bewahren.

Sehnen und Suchen

Gerhard Marcel Martin hat ein Buch mit dem Titel „Sehnsucht leben“ geschrieben. Für den emeritierten Marburger Professor der Praktischen Theologie hat Sehnsucht viel mit dem Kern von Religion zu tun: Hoffnung und Verzweiflung, Glück und Schmerz finden in ihr zusammen. Gerade in Krisenzeiten treibt sie über Rückschläge und Enttäuschungen hinaus. Religion und Sehnsucht gehören für Gerhard Marcel Martin aus einem ganz einfachen Grund zusammen:

Religion ist ein Lebensphänomen und kein Denkereignis. Und von da aus muss sie und ist auch immer mit Lebenserfahrung  und mit Enttäuschung und Schmerz und Sehnsucht verbunden.

Das gefällt mir: Religion ist nichts Exklusives - etwa nur für Kirchenmitglieder. Sie gehört mitten ins Leben: Als ein „Lebensphänomen“ hält sie Schmerz und Sehnsucht verbunden.  Sie gehört zu einem Drang, der sich manchmal gar nicht aussprechen lässt, so tief ist er im Grund des Lebens angelegt.

Das Klassische ist bei Paulus, dass die ganze Schöpfung sich sehnt nach der Erlösung, nach Lösung, nach Freiheit – und dass dies zum Ausdruck gebracht wird über ein Stöhnen, über ein Seufzen, also etwas Vorsprachliches, aber zutiefst Leibhaftiges.

Ja, manchmal möchte ich auch nur noch Stöhnen und Seufzen über den Unfrieden, das Taumeln unseres Planeten und die Rückfälle im politischen und menschlichen Bemühen.

In seinem Buch geht Gerhard Marcel Martin davon aus, dass wir genau so – auch im Stöhnen und Seufzen - „Sehnsucht leben“ können.

Sehnsucht ist unterbestimmt und kann  den Zielgegegenstand (schmunzelt), das Ziel gar nicht benennen, weil es in die Weite und ins Offene geht, was lebensdienlich ist, aber auch gefährlich sein kann. Und in dem Sinn kann aus Sehnsucht auch eine Abhängigkeit und eine Sucht werden

- und dabei kann Sehnsucht krank machen, weil sie immer weg zieht von dem, was ist. Und weil Menschen manchmal versuchen, die Sehnsucht mit Suchtmitteln ruhig zu stellen.

Und in dem Sinn müsste auch Sucht-Therapie befreien durch ein Lernen der Sehnsucht. Aus der Sucht kommt man nur heraus, wenn man in die Sehnsucht um-steigt…

Mir gefällt die kreative Nach-denklichkeit, mit der Gerhard Marcel Martin denkt, spricht und schreibt. Er berührt mich mit dem, was er aus Psychologie und Religionswissenschaft, aus Musik, Kunst und Bühnenwelt zusammen trägt

Wenn Religion diesen Anschluss an die Weite der Kultur und die Weite menschlicher Erfahrung verliert, dann ist sie „Plastik“ und verliert den Lebensatem.

 

Buch-Tipp:
Gerhard Marcel Martin, Sehnsucht leben, Stuttgart 2022

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36338
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