SWR2 Wort zum Tag

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06OKT2022
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Manchmal kann ich nachts nicht schlafen. Ich liege dann eine Stunde wach oder zwei. Mich umkreisen dunkle Gedanken. Ich frage mich: „Hätte ich für diesen Menschen in Not nicht noch viel mehr machen müssen? Und bin ich gut genug vorbereitet für den kommenden Tag?“ Diese Gedanken bedrängen mich. Die Christen aus alter Zeit hätten gesagt: Sie sind wie Dämonen, die mich attackieren. – Manchmal mache ich in diesen Nachtstunden das Fenster auf und horche hinaus in die Dunkelheit. Dann scheint es mir so, als ob ich von weit her Gesang höre und Gebete. Vielleicht steigen diese Geräusche auch nur aus meiner Seele auf, denn ich weiß ja: Da sind noch andere, die wachen. Die singen und beten, auch mitten in der Nacht.

Tatsächlich widmet sich ein ganzer Orden dieser Tätigkeit: der Kartäuserorden, gegründet von Bruno von Köln. Heute ist sein Gedenktag. Das, was Bruno da ins Werk gesetzt hat, fasziniert mich ebenso, wie es mich in seiner Radikalität erschreckt. Und manchmal, nachts, tröstet es mich auch.  

Was hat Bruno getan? – Mitte des 11. Jahrhunderts hat er gegen bestechliche Kirchenfürsten gekämpft. Dann aber hat er die Berufung zu anderen Kämpfen gespürt: „Ich will um die Reinheit der Seele kämpfen. Und wie Jesus fechte ich diese Kämpfe in der Einsamkeit aus. In der Wüste. Dort kämpfe ich mit den Dämonen. Das reinigt meine eigene Seele. Und ich kann dann Fürbitte halten für andere Menschen.“ So hat Bruno gedacht.

Doch er hat in Frankreich gelebt, und dort gibt es bekanntlich keine Wüsten. Daher ist er mit seinen sechs Gefährten in ein Wüsten-ähnliches Gebiet gegangen: in die Einsamkeit der Alpen nördlich von Grenoble. Im Jahr 1084 hat er dort das Mutterkloster der Kartäuser gegründet, die Grande Chartreuse.

Doch Bruno hat sich nicht nur einem Wüsten-Ort ausgesetzt, sondern auch einer Wüsten-Zeit: der Mitte der Nacht. Da erleben Menschen vielleicht am stärksten ihre Einsamkeit. Da werden wir manchmal von unseren dunklen Gedanken umkreist wie von Dämonen. Deshalb halten die Kartäusermönche bis heute ihren Hauptgottesdienst mitten in der Nacht: von Mitternacht bis 2 Uhr morgens. Wie Wächter für die ganze Welt stehen sie da vor Gott. Sie loben ihn und beten für die Menschen, denen es schlecht geht.

Menschen wie mich, wenn ich mal wieder nicht schlafen kann. Aber wenigstens weiß ich: Es gibt andere Menschen, die beten. Für mich und für alle, die sich einsam und bedrängt fühlen, mitten in der Nacht. So werde ich Teil einer großen Gemeinschaft, über alle Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg.  

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36298
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