Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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03OKT2022
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„Zusammen wachsen.“ Das ist das Motto, unter dem in diesem Jahr die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ in Erfurt stattfinden. Zum 32. Mal wird dieser Tag gefeiert. Was ein Glück, dass damals nach über 40 Jahren Trennung unser Land wieder zusammenwachsen konnte. Zugleich habe ich den Eindruck, dass es mit der echten Einheit noch etwas klemmt und noch einiges für die Einheit zu tun ist. Nicht nur zwischen den Menschen in Ost und West, sondern zwischen allen Menschen in unserem Land.

Doch – wie geht das? Wie können wir zueinander finden, wenn wir mit so vielfältigen politischen, kulturellen und religiösen Ansichten auf unser Land schauen? Wie können wir die Herausforderungen gemeinsam angehen, ohne dass Einzelne oder ganze Gruppen das Gefühl haben außen vor zu sein und vergessen zu werden?

Eine Geschichte, die der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani in einem seiner Bücher erzählt, hilft mir da weiter. Die Geschichte geht so:

Als Scheich Abu Said einmal nach Tus kam, einer Stadt im Nordosten des heutigen Irans, strömten so viele Gläubige in die Moschee, dass kein Platz mehr blieb. Da rief der Platzanweiser in die Menge: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Da schloss der Scheich die Versammlung, bevor sie begonnen hatte. Und bevor er sich umwandte und die Stadt verließ, erklärte er: „Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt: `Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.´“ [1]

Mir sagt die Geschichte: Es wird miteinander nur gelingen, wenn alle sich bewegen. Da braucht es nicht gleich die ganz großen Schritte, doch kleine Schritte sind für den Weg zueinander unentbehrlich. Und die überfordern niemanden.

Ein zweites: es braucht Vertrauen. Vertrauen, dass die anderen auch einen Schritt tun werden. Denn das Miteinander hängt nicht nur an mir. Geht aber auch nicht ohne mich.

Konkret kann das heißen, dass ich mir in einer Diskussion oder bei einem Streit bewusst mehr Zeit nehme, um zuzuhören und um zu verstehen, was dem anderen wichtig ist. Und wenn mein Chef oder Politiker Entscheidungen treffen, die Nachteile für mich bedeuten, muss ich ihnen nicht sofort unterstellen, dass sie es böse mit mir meinen. Vielleicht ist die Entscheidung mit Blick auf das Ganze notwendig.

Ich bin überzeugt: wenn wir einander nicht aus dem Blick verlieren und alle bereit sind, einen Schritt aufeinander zuzugehen, dann ist Einheit bei aller Vielfalt möglich.

 

[1] Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36278
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