SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

11SEP2022
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Theaterbesuche faszinieren mich. Dort kann ich abschalten und meinen Alltag zurücklassen. Eintauchen in all die Geschichten von der Liebe, den Tragödien und Intrigen. Mit allen Mitteln der Kunst werden sie auf die Bühne gebracht. Musikalisch umgesetzt von den Musikern im Orchestergraben. Von Sängerinnen und Sängern. Kreativ inszeniert mit wechselnden Kulissen und Bildern. Immer in anderem Licht. Alles ist im Theater möglich.

Die Drehbühnen haben mir es besonders angetan. Ständig hat man neue Einblicke. In Zimmer. Auf Häuser. Plätze und Hinterbühnen. Menschen kann ich durchs Fenster beobachten und gleichzeitig sehen was andere nicht sehen können.

Die Geschichte aus der Bibel, die heute im katholischen Gottesdienst vorgelesen wird, könnte sich auf einer Drehbühne abspielen. Der Evangelist Lukas erzählt darin von einem Vater und seinen beiden Söhnen.

Szene 1 ist schnell erzählt. Der Jüngste will seinen eigenen Weg gehen. Er hat genug vom engen Elternhaus, lässt sich sein Erbe auszahlen, macht sich vom Acker und zieht in ein anderes Land. Nachdem er dort sein Erbe verschleudert hat, bricht eine Hungersnot aus. Es ist eine Geschichte vom Abstieg in die extreme Armut. Ganz unten als Schweinehirt angekommen, sieht er nur noch einen Ausweg. Mit Lumpen auf dem Leib will er ins Elternhaus zurückkehren.

Szene 2 beschreibt den Vater bei seiner Rückkehr. Der sieht seinen Sohn, wie er schutzlos und dem Verhungern nahe daher kommt. Er läuft ihm entgegen und umarmt und küsst ihn. Der Verlorene soll nicht nur das Notwendigste von ihm bekommen. Mehr noch. Ein Fest mit Tanz. Und ein Essen, das sich sehen lassen kann finden statt.  

Szene 3 zeigt den älteren Sohn Wie er treu und brav daheim bleibt. Pflichtbewusst kümmert er sich um die Arbeit auf dem Feld. Er dient dem Vater und stellt keine Forderungen wie sein Bruder. Nie wurde für ihn so ein Fest organisiert. Für ihn ist das was sich bei der Rückkehr seines Bruders abspielt, unfair und unangemessen. Auch wenn der Vater, nachdem der seiner Bitterkeit Luft gemacht hat, noch so sehr betont: Ich liebe dich.

Die drei Szenen bieten Stoff genug für neue Räume, Perspektiven und Geschichten, die das Leben schreibt.

Meine Drehbühne kommt in Bewegung. Zu sehen ist nun ein Zimmer mit überglücklichen Eltern. Sie freuen sich über die Geburt ihres ersten Kindes. Doch ihr Kind wird größer. Die Bühne macht es möglich. Die Zeit vergeht wie im Zeitraffer. Das Kind wird erwachsen. Entwickelt sich. Sucht sich Freunde. Es verlässt den engen Raum der Eltern. In der Ecke steht noch die Wiege. Die Eltern müssen nun das Loslassen lernen. Schmerzhaft akzeptieren, dass ihr Kind seine eigenen Wege geht.

Meine Drehbühne bewegt sich aufs Neue. Macht den Blick frei, hinein in ein anderes Zimmer. Eine alte Frau feiert ihren Geburtstag. Sie sitzt an der Kaffeetafel. Viele sind gekommen. Aber eben nicht alle. Ihr Jüngster fehlt. Bei aller Freude schaut sie traurig in die Runde. Es ist eine Geschichte der Liebe, die da erzählt wird. Zu dem der fehlt.

Die Bühne dreht sich wieder ein Stück weiter. Es betreten nun Menschen den Raum, die einfach nur da sind. Verfügbar. Rund um die Uhr. Denen selten gedankt wird. Sie tragen grüne OP-Kittel, haben Kinder auf dem Arm, schieben Rollstühle. Einige sitzen am Krankenbett. Doch sie verschwinden im Dunkel der Bühne. Fast lautlos.

Die Szenen die sich anschließen folgen in raschem Wechsel. Ohne Worte drücken sie aus was in der Erzählung des Lukas und seiner Geschichte vom verlorenen Sohn an menschlichen Erfahrungen steckt.

Zu sehen sind Menschen, die sich herzlich umarmen. Aber auch Menschen, die sich aus Umarmungen befreien. Abschiede am Bahnsteig. Rauschende Feste und Menschen, die ausgelassen tanzen. Ein stummer Betrachter am Rand taucht im Licht kurz auf. Da sind aber auch Menschen zu sehen, die aus großer Distanz aufeinander zugehen. Und solche die fast leblos und abgemagert am Straßenrand sitzen. Flaschen einsammeln und irgendwie ganz unten sind.

Die Geschichte des Lukas. Es ist eine Geschichte, die sich bis heute abspielt. An unzähligen Orten, in vielen Facetten. Eine Geschichte vom sich verloren fühlen. Vom Neuanfang, der einfach nur nach vorne schaut und nicht immer wieder mit alten Geschichten belastet wird. Vom Wieder nach Hause kommen. Von einer Umarmung nach langer Trennung. Eine Geschichte voller Bitterkeit und Enttäuschung, immer wieder zu kurz zu kommen. Und von der Liebe, die einfach nur verzeiht. Was für eine Geschichte!

Genau so ist der Vater im Himmel, will Lukas uns damit sagen. Der Verlorene wird nicht gedemütigt. Gott läuft ihm entgegen. Seine Umarmung braucht keine Beichte. Belehrungen wie: „Ich hab es Dir ja gleich gesagt. Jetzt siehst Du, was dabei herauskommt!“ - die sind ihm so was von fremd.

In unserem gedachten Theater wird am Ende applaudiert. Es gibt aber auch Buhrufe und Pfiffe. Ja es ist unerhört, wie in dieser Geschichte von Gott erzählt wird. Niemand geht verloren. Gottes Liebe ist grenzenlos.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36149
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