SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

15SEP2022
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Es kommt nicht darauf an, was ein Mensch leistet. Das ist so ein Satz, den Theologen gerne sagen. Ich finde auch, dass er richtig ist. Erfolg ist keine der Kategorien, nach denen Gott das Leben eines Menschen bewertet. Aber der Satz ist schnell gesagt, und im echten Leben geht es halt doch darum: wie klug einer ist, wie viel Geld er verdient, oder wie schnell er 3000 Meter läuft. Überall teilen wir Menschen danach ein, was sie leisten, auch in der Kirche. Wo Christen es doch besser wissen müssten, weil Jesus ihnen die entsprechenden Sätze ins Stammbuch geschrieben hat: Die Ersten werden die Letzten sein, zum Beispiel. Sobald ich den Dunstkreis der Sonntagspredigt verlassen haben, bestimmt häufig das alte Muster, wie ich denke. Wer viel kann und tut, der gilt viel.

Es war deshalb für mich ziemlich beschämend, wie ein Sportler mir unlängst den Spiegel vorgehalten hat. Der 3000-Meter-Läufer Nahuel Carabena aus Andorra, bei der Leichtathletik-EM im August in München. Da ist Folgendes passiert: Die Läufer haben etwa ein Drittel der Strecke hinter sich, als plötzlich der stürzt, der das Feld anführt. Erst läuft Carabena weiter, dann aber dreht er um und versucht den anderen wieder auf die Beine zu bringen. Den Konkurrenten. Aber der kann seinen Lauf nicht fortsetzen. Carabena stützt ihn und hilft ihm, den Laufweg frei zu machen. Dann setzt er den eigenen Lauf fort, ohne jede Chance, was ihm klar gewesen sein muss. Er hat rund eine halbe Minute verloren und kommt abgeschlagen als Letzter ins Ziel.

War er das wirklich, der Letzte? Für mich ging er als Erster ins Ziel, und auch das Publikum muss es so verstanden haben, weshalb es ihm tosend applaudiert hat. Auf einmal haben alle gespürt: Darauf kommt es an. Das ist menschlich und macht uns erst zu Menschen. Einen anderen nicht allein zu lassen, ihm zu helfen. Nicht der Schnellste zu sein, nicht Buchhalter oder Professor oder Dauerläufer.

Es ist schon klar: So kriegt man keine Medaille und gewinnt keinen Rekord. Aber was wir tun, hat fast immer nicht nur diese Seite, die wir messen können, die nach außen sichtbar wird. Auch Carabena hat einen Augenblick gebraucht, um sich dessen bewusst zu werden. Aber als er umgedreht ist, in diesem Moment, da ist diese andere Seite zum Vorschein gekommen. Und alle, die es gesehen haben, haben verstanden: Der Mensch ist mehr als das, was er kann und leistet. Der Mensch ist an und für sich wertvoll. Und so liebt ihn Gott.

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