SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

12SEP2022
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Es gibt Lichtblicke. Trotz allem. Obwohl der furchtbare Krieg in der Ukraine weitergeht. Auch wenn viele unter den steigenden Preisen stöhnen. Sogar der Klimakrise zum Trotz. An dem allen gibt es nichts schönzureden. Und trotzdem gibt es Lichtblicke. Und ich bin neulich Zeuge von einem geworden.

Ich stehe auf dem Bahnsteig in Tübingen, um einen Freund vom Zug abzuholen. Ein Gewusel um mich herum, laute Gespräche, ein Hund bellt, Züge fahren ein und aus, die Stimme aus dem Lautsprecher kündigt eine Gleisänderung an. Ich schaue auf die elektronische Anzeige auf meinem Bahnsteig, um zu prüfen, ob ich richtig bin. Und sehe, dass sich da etwas regt. Oben drauf, auf der Anzeige. Da sind lauter spitze Stacheln angebracht, damit die Tauben sich dort nicht niederlassen und alles voll Kot ist. Aber genau da, auf der Abdeckung der Anzeigetafel, mitten zwischen den Stacheln haben Tauben ein Nest gebaut. Und es sind Junge drin. Sie strecken ihre Hälse nach oben und die Alten kommen, um sie zu füttern. Es ist unglaublich. Und wunderschön.

Ich staune, was die Natur alles kann. Wie sie sich durchsetzt gegen Widerstände, sich nicht beirren lässt von dem, was das Leben schwer macht. Alles sieht danach aus, dass das bestimmt nicht funktionieren kann. Und gerade da geht’s! Ich staune auch darüber, dass die Bahn das durchgehen lässt. Die Stacheln sind ja nicht ohne Grund da; die Tauben machen wirklich Dreck. Wer unter der Anzeige durchgeht, muss aufpassen, dass er nichts abkriegt vom Taubenkot. Aber jetzt das Nest abzuräumen, wo Junge drin sind, das hat wohl keiner übers Herz gebracht. Gut so.

Es gibt also gleich zwei Gründe, weshalb das ein Lichtblick war. Zum einen die Macht der Natur, die sich durchsetzt, wo es ganz unwahrscheinlich ist. Die für eine Überraschung gut ist. Die sich wehrt gegen das, was dem Leben feindlich entgegensteht. Und ganz vorsichtig hoffe ich, dass darin auch Gott aufblitzt, weil er seine Schöpfung nicht aufgibt, selbst wenn wir Menschen so arg darin herumpfuschen. Dann noch der zweite Grund: Der Mensch kann, wenn er nur will. Die jungen Tauben werden verschont. Das Leben siegt. Wenn das an vielen Stellen geschieht – dort, wo es darauf ankommt – dann hat unsere Welt doch noch eine Chance.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36137
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