SWR1 Begegnungen

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28AUG2022
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Uwe Habenicht Copyright Foto: M. Pfann

Manuela Pfann trifft Uwe Habenicht, Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde St. Gallen West.

Ich treffe Uwe Habenicht in seinem Pfarrhaus in St. Gallen. Er ist herumgekommen als Pfarrer; von Deutschland nach Italien, von Italien in die Schweiz. Jetzt hat er ein Buch geschrieben. Über die Möglichkeit, Gott zu begegnen. Ich habe ihn gefragt, was es mit dem eigenartigen Titel „Freestyle Religion“ auf sich hat; denn den Begriff „Freestyle“ kenne ich sonst nur aus dem Sport, wenn Ski- oder Radfahrer Sprünge oder Kunststücke in die Luft zaubern:

Meine Kinder haben in Italien jahrelang Parcours, so ein Freestyle Running, gemacht. Und wenn man Kindern und Jugendlichen zuguckt, wie sie das lernen und üben über so einen Bock zu springen, Wände hochzulaufen Saltos zu schlagen, dann versteht man dabei über den christlichen Glauben oder über Religion überhaupt eine ganze Menge.

Das klingt erst mal anstrengend für mich. Doch Uwe Habenicht ist auch begeistert; von der Leichtigkeit und Freude, die er dort gespürt hat.

Religion assoziieren wir oft mit Schwerfälligkeit mit langatmigen Zeremonien, die sich da vollziehen, mit nem Priestern und Pfarrer, der nicht aufhört zu reden. Religion ist eigentlich was anderes. Religion ist Lebendigkeit und diese Lebendigkeit, das ist für mich Freestyle.

Das wiederum hört sich für mich gut an! Zumindest in der Theorie. Denn etwas lässt mich bei Freestyle in der Religion stolpern; weil Freestyle bedeutet: jeder gestaltet erstmal seine eigene Performance, seine eigene Übung. Ich frage mich ob so ein individueller Glaubensansatz nicht eine Gratwanderung ist.

Die Gefahr besteht darin, dass ich mir ein spirituelles Angebot suche, was ich dann bezahle, oder ausübe, aber dass es auf Dauer totläuft, wenn es nicht irgendwo angebunden ist. Ich selber spiele Posaune und das macht wirklich Freude alleine zu üben, daheim. Aber wenn ich nur das machen würde, dann würde ich irgendwann aufhören. Das heißt, ich brauche schon nochmal die anderen, die mir sagen, an dem Punkte spielst du irgendwie falsch und ich brauche auch die Freude, dass wir da zusammen etwas kreieren und dass gemeinsam etwas entsteht, was eben über mich hinausgeht.

Für Uwe Habenicht gehört beides untrennbar zusammen. Und doch bleibt für viele Menschen, die ich kenne, zunächst eine ganz grundsätzliche Frage offen, nämlich: Brauche ich Religion überhaupt? Was hat sie mit meinem Leben zu tun?

Ich glaube, dass jeder Religion hat. Dass die Formen, in der Religion gelebt wird, sehr verschieden sind. Für mich ist Religion eine Art und eine Grundhaltung mit dem Leben umzugehen. Also wann verbinde ich mich mit meinen eigenen Sehnsüchten und Wünschen? Wann nehme ich eigentlich wahr, dass mir etwas fehlt oder dass vielleicht in meiner Beziehung gerade etwas wackelt? Das passiert nur dann, wenn ich mich ein Stück zurückziehe und mal in eine Passivität, in eine Stille gehe.

Mit seinem Buch „Freestyle Religion“ will er Menschen ermuntern, einen ganz individuellen Weg zu Gott zu suchen. Und der beginnt in der Stille. Denn da komme ich am ehesten mit mir selbst in Verbindung. Und dann ist es nicht mehr weit zu Gott, so sagt es jedenfalls Uwe Habenicht.

Immer schon waren die Gotteserfahrung und die Selbsterfahrung zwei Seiten der gleichen Medaille. Und wenn Menschen auf Religion nicht zugehen, dann, weil sie glauben, es ginge um etwas Fremdes. Aber die Gotteserfahrung und die Selbsterfahrung liegen ineinander und ich kann mich selber als ein Geschöpf nur dann voll wahrnehmen, wenn ich mir eingestehe, es gibt Kräfte, die gehen über mich hinaus. Und diese Erfahrungen, die müssen wir neu erschließen.

So ein Ort, an dem Menschen diese Erfahrung machen können, hat der evangelische Pfarrer mit dem Projekt „Waldkirche“ in St. Gallen geschaffen. Waldkirche hat allerdings wenig zu tun mit Gottesdienst auf Bierbänken und unter Bäumen. Uwe Habenicht geht es vielmehr darum, unsere Sinne anzusprechen, um religiöse Erfahrung möglich zu machen – und somit eine Situation zu schaffen, die in unserem durchgetakteten Alltag sonst kaum möglich ist.

Es war wirklich kalt und eine Aufgabe war, jeder schlägt sich mal in eine Ecke und setzt sich mal der Kälte aus. Was heißt das eigentlich, von der Kälte gebissen zu werden, den Biss der Kälte standhalten. Und in der Waldkirche wird es darum gehen, sich solchen ganzkörperlichen Erfahrungen auszusetzen und mal wirklich nur zu hören, mal wirklich nur zu schauen, mal nur zu Tasten, mal nur mit den Füßen ganz gegenwärtig zu sein, also die Aufmerksamkeit richten auf eine Erfahrung und sich dem mal ganz hingeben. Das ist sozusagen die Grundidee.

Mir fällt es zunächst schwer nachzuvollziehen, was frieren und Bäume betrachten mit religiöser Erfahrung zu tun hat. Was ich aber lerne im Gespräch mit Uwe Habenicht ist: dass ich mich erst selbst wahrnehmen muss, bevor ich mit Gott in Berührung kommen kann. Und ich erinnere mich: so manche Naturerfahrung hat schon Klarheit in meine Gedanken gebracht. Wenn ich beispielsweise früh morgens in aller Stille zum Sonnenaufgang unterwegs war. Und trotzdem:

Religion ist nicht machbar, Gotteserfahrung sowieso nicht. Aber wir können eben Orte und Situation aufsuchen, wo es wahrscheinlicher wird, dass etwas in uns aufgeht von dem, was im Leben trägt. Ich glaube, davon brauchen wir wieder mehr. Vor dem Computer alleine wird sich da wenig tun, im Kopf auch, sondern das muss ein ganzheitliches Erleben sein und dann vertrauen wir mal darauf, dass sich dann schon was tut.

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„Freestyle Religion - Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt - eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert“, echter Verlag (2020)
„Draußen abtauchen – Freestyle Religion in der Natur“, echter Verlag (2022)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36083
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