SWR2 Wort zum Tag

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23AUG2022
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Bei der langen Nacht der Wissenschaften in Berlin ist unlängst ein Vortrag abgesagt worden. Aus Angst vor gewaltsamen Störungen. Die Biologin Marie Vollbrecht hatte einen Vortrag angekündigt zum Thema „Warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“. Auch Reizwörter wie Sex und Gender sind im Titel aufgetaucht. Mich hat das erschreckt: Nicht die Aussage, dass es zwei Geschlechter gibt - das ist im Raum der Wissenschaft  eine These, die man diskutieren kann -sondern die Tatsache, dass der Druck von Andersdenkenden dazu geführt hat, dass sie ihre Thesen erst gar nicht vorstellen konnte.

Als Pfarrer habe ich mich aber auch  gefragt: Wie ist das dann eigentlich, wenn bei kirchlichen Trauungen - oder bei anderen Anlässen - Worte wie diese aus dem 1. Kapitel der Bibel vorgelesen werden: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie...“ (1. Mose 1,27f) Ist das nicht ein Affront für alle, die eine Diversität und Pluralität der Geschlechter propagieren? Muss ich bei Trauungen künftig mit Störungen rechnen? Oder darf ich noch erklären, dass diese wunderbaren Worte nicht aus einem Biologiebuch stammen? Dass sie vor über zweitausend Jahren aufgeschrieben worden sind und aus der Zeit des Exils und der Verbannung der Juden in Babylon stammen. Und dass sie eine geradezu revolutionäre Pointe haben – nämlich gegen jede Form von Rassenlehre und Rassismus stehen: Alle Menschen stammen von einem Paar ab.
Und diese Worte sind in einem egalitären Sinn zu verstehen: Es gibt keine Geschlechterhierarchie: Gott segnet sie beide!

Die Humboldt-Universität in Berlin hat den abgesagten Vortrag übrigens am 14. Juli nachholen lassen - am französischen Nationalfeiertag. Wie passend! Ist doch der 14. Juli ein Festtag für Geschlechter- und Völkergleichheit: Egalité – Gleichheit – so lautete eine Parole der französischen Revolution!

Für mich ist es eine lebenswichtige Kostbarkeit, dass im Streit der Meinungen und Ansichten die Möglichkeit zur freien Rede unangetastet bleibt. So wie es in der Bibel einmal von Paulus heißt: Er redete mit aller Freimut – und das auch als ein bewachter Gefangener in Rom (Apg 28.31). Mut zur freien Rede – auch in einer bedrohlichen Situation. Auf nicht mehr und nicht weniger kommt es an. Ich will das auch versuchen.

Und das Verstehen fördern für Vorstellungen aus der Bibel. Auch und gerade dann, wenn Missverständnisse und Vorurteile lauern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36070
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