SWR2 Wort zum Tag

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30AUG2022
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Die Zahl der Christen in Deutschland ist weiter gesunken. Und dieses Jahr ist es passiert: Nun gehören weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer Kirche an. Eine religiöse „Zeitenwende“.

Von heute auf morgen ändert das wenig in unserer Gesellschaft: Es gibt weiter Religionsunterricht an den Schulen, die Kirchenglocke läutet und das Altenheim der Caritas bleibt geöffnet. Und doch wird nicht alles so bleiben, wie es war.

Ich finde es sehr spannend, darüber nachzudenken, was die Kirchengeschichte in den letzten Jahrzehnten geprägt hat. Während der Nazizeit war die Situation dramatisch: Die Nationalsozialisten haben das Christentum verachtet und die Kirche verfolgt. Kirchen haben sie als Pferdeställe benutzt, tausende Priester ermordet, selbst Rom war von den Nazis besetzt. Doch bevor die Nazis die Kirchen auflösen und zerstören konnten, war der zweite Weltkrieg vorbei. Deutschland war ein Trümmerhaufen.

In Westdeutschland haben viele Menschen damals gesagt: Wir bauen dieses Land wieder auf und erinnern uns an unsere christlichen Wurzeln. Auch die Politik hat den Kirchen damals viele Rechte zugesprochen, denn der christliche Glaube sollte die Menschen davor schützen, wieder einem Verbrecher wie Adolf Hitler zuzujubeln.

Für Jahrzehnte war so das Christentum ein selbstverständlicher Teil der Bundesrepublik: Nie zuvor haben die Menschen so viele Kirchen in unserem Land gebaut, die Weihnachtsmesse hat für alle dazugehört, im Fernsehen läuft das Wort zum Sonntag und im Radio das Wort zum Tag.

Wer kann sagen, wie es ohne die Kirche gekommen wäre? Heute höre ich von den Verbrechen, die die Kirche vertuscht hat, um immer sauber dazustehen. Diese Seite ist endlich ans Licht gekommen. Und auf der anderen Seite gibt es die schönen Geschichten, die Menschen mit ihrem Glauben erlebt haben. Zum Beispiel meine Bekannte Giesela, die mit strahlenden Augen von ihrer Jugend, Freundschaften und der Musik erzählt. Für sie war und ist die Kirche deswegen ein Kraftort und ein Stück Heimat.

Wie geht es weiter mit dem Christentum in unserer Gesellschaft? Da habe ich kein klares Bild vor Augen. Ich weiß nur: Auch heute gibt es viele Christen, die unsere Gesellschaft gestalten. Rund vierzig Millionen Menschen. Schulleiterinnen, Bürgermeister, Schauspieler und Busfahrerinnen. Sie tragen viel dazu bei, dass wir in einem menschenfreundlichen Land leben. Manche zeigen sich offen als Christen, andere behalten es für sich.

Für die Kirchen wünsche ich mir, dass sie bescheidener und ehrlicher werden. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen es selbstverständlich erschien, dass unsere Gesellschaft vom Christentum durchdrungen und getragen wird. Menschen entscheiden sich frei, woran sie glauben und wie sie glauben. Und zugleich gibt es weiterhin sehr viele Orte, die dazu einladen: Zu beten und zu singen, zu helfen und den Glauben zu feiern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36013
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