SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

02SEP2022
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Ich habe einen Bekannten, den ich ab und zu im Pflegeheim besuche. Er ist schwer dement. Inzwischen spricht er kaum noch etwas, und das macht mich oft ratlos. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Mir fällt nichts ein, was ich sagen kann, selbst beim einfachsten Gespräch scheitere ich, weil es mir sinnlos erscheint. Ich weiß nicht, was er versteht und was überhaupt bei ihm ankommt. Manchmal bin ich da schon dankbar, wenn andere Patienten mich dann in ein Gespräch verwickeln. Aber weil sie auch dement sind, kommt das Gespräch meistens in eine Wiederholungsschleife. Wir reden dann zig-mal dasselbe. Eine Patientin fragt, ob sie bald nach Hause kann. Ich sage ihr, dass sie sich keine Sorgen über ihr zuhause machen muss. Es ist alles in Ordnung. Dann bedankt sie sich und fragt in der nächsten Sekunde, ob sie bald nach Hause kann. Und das Gespräch beginnt wieder von vorne.

Bei einer anderen Bekannten von mir ist die Demenz noch nicht so weit fortgeschritten. Sie hat gute Tage und Tage, an denen sie sehr verwirrt ist. Aber das Traurige ist, dass sie es merkt, dass etwas nicht stimmt. Manchmal erzählt sie Geschichten, die nicht stimmen können. Wenn ich sie dann schon korrigiert habe, war sie schnell tieftraurig und sehr unsicher. Ich kann mir vorstellen, dass das schwer ist, wenn ich dem nicht trauen kann, was ich sicher zu wissen glaube.

Ein Buch von Arno Geiger bringt das alles auf den Punkt. Es heißt: Der alte König in seinem Exil. Arno Geiger erzählt darin, wie er die Demenz seines Vaters erlebt und was er daraus gelernt hat. Ich finde, dass der Titel es schon auf den Punkt bringt. Ein Mensch mit Demenz lebt in einer anderen Welt, wie in einem Exil. Er ist nicht mehr bei sich zuhause und alle Kontakte, die er vorher hatte, sind in die Ferne gerückt. Wenn ich diesen Menschen in seiner Wirklichkeit besuche, bin ich zu Gast bei ihm. Es tut gut, wenn ich ihn dann wie einen König behandle. Zum einen, weil ich ihn respektiere, zum andern, weil ich anerkenne, dass er in dieser fremden Welt die Hoheit innehat. Das heißt, ich korrigiere ihn nicht, wenn er etwas sagt, was nicht sein kann, sondern ich frage nach und versuche mit ihm in seine Welt zu gehen.

Ich denke, dass ich auf diesem Gebiet noch viel lernen muss. Aber vielleicht ist das ja ein Anfang, wenn ich mit einem Menschen umgehe, der Demenz hat. Dass ich ihn wie einen König in einer Welt behandle, die mir fremd ist. Als sein Gast lasse ich mich aber darin von ihm führen. Ich habe es schon ausprobiert und manchmal sind es genau diese Momente, in denen ich so handle, in denen meine demente Bekannte wieder kurz zu sich selbst findet.

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