SWR2 Wort zum Tag

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22JUL2022
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Letzte Woche hatte ich einen Moment, den man in der Jungendsprache einen „cringe-Moment“ nennen würde. Aus dem Englischen übersetzt bedeutet „cringe“ so viel wie „zusammenzucken“ und wird als Ausdruck für „fremdschämen“ benutzt. Ich las auf allen Kanälen, dass Papst Franziskus sich zum Thema Schwangerschaftsabbruch geäußert hatte und es mit „dem Anheuern eines Auftragsmörders“ verglich. Dieses hoch komplexe Thema, dass gerade in den USA zu einem Kulturkampf stilisiert wird, mit so einem plumpen Vergleich zu behandeln konnte ich schwer ertragen. Ein enger Freund, der ohnehin mit der Frage hadert, ob er sein Kind in der katholischen Kirche taufen lassen will, schickte mir die Nachricht zu und war fassungslos. Nicht viel besser ging es mir, als der Papst ein paar Wochen davor den sogenannten „synodalen Weg“ in Deutschland und damit die jahrelangen Reformbestrebungen der deutschen Katholiken grundsätzlich infrage gestellt hat. Ich halte diesen Reformprozess für die letzte Chance, wie meine Kirche vielleicht doch noch in der Lebenswirklichkeit heutiger Menschen ankommen kann. Und dann diese Worte des Papstes: „In Deutschland gibt es eine sehr gute evangelische Kirche. Wir brauchen nicht zwei davon.“ Da war es wieder, dieses Gefühl: Wenn ich bleibe, stütze ich halt doch nur ein System, welches ich eigentlich für zutiefst verbohrt und unnachgiebig halte.

Doch dann war ich bei einer Feier mit Freunden, die ich vor Jahrzehnten in der kirchlichen Jugendarbeit kennengelernt habe. Wir haben zusammen einen berührenden und bereichernden Gottesdienst gefeiert. Ein offener, zugewandter Priester war da und viele Menschen, die genauso wie ich zeitlebens mit der Kirche hadern und doch so viel für sich aus der christlichen Botschaft ziehen können. Es war zu spüren, wie diese Botschaft sie auf ihren Lebenswegen begleitet hat, persönlich und als Freunde oder Paare. Und so stehe ich hier mit dieser ganzen Ambivalenz und frage mich, was denn nun mehr wiegen sollte: Das Negative oder das Gute.

Es ist die Gretchenfrage vieler Menschen heute, die gläubig und in der Kirche beheimatet und trotzdem von ihr enttäuscht sind. Wie sollen wir sie auflösen? Einstweilen bleibt mir wohl nur, diese Widersprüchlichkeiten zu ertragen, ihnen aber auch dadurch gerecht zu werden, dass ich sie klar benenne und mit anderen teile. Denn ich will die Kirche weder verdammen, noch so tun, als wäre alles doch eigentlich in Ordnung. Ein paar „cringe-Momente“ weniger wären schon mal ganz gut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35818
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