Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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21JUL2022
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Ich hatte ganz schön Herzklopfen damals. Als ich das erste Mal ohne Stützräder auf dem Fahrrad saß. Es ging bergab, ich nahm Fahrt auf – und mein Vater, der mitgerannt war und mich am Gepäckträger festgehalten hatte, ließ los. Und jetzt? Mir kam das alles plötzlich sehr wackelig vor – und die ganze Aktion ziemlich gewagt.

Nun, es ist gut gegangen – aber wenn ich mich daran erinnere, merke ich, wie erstaunlich es eigentlich ist, dass ich heute so mühelos auf dem Fahrrad im Gleichgewicht bleibe. Und nicht nur da! Auch wenn ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehe, ist es ja nicht selbstverständlich, dass ich die Balance halten kann. Dafür braucht es ein eigenes Sinnesorgan: Das vestibuläre System, eine komplizierte Einrichtung im Innenohr. Wenn der Gleichgewichtssinn nicht mehr gut funktioniert, bereitet das im Alltag ziemliche Probleme.

Was aber am Fahrradfahren besonders – und für Anfänger ja auch besonders aufregend – ist: Das Gleichgewicht zu halten ist nur in Bewegung möglich. Wer stehen bleibt, kippt um. Die Sozialarbeiterin und engagierte Christin Madeleine Delbrel hat deshalb das Fahrradfahren als Gleichnis für unser Leben gesehen – und auch für die Beziehung zu Gott. Fahrrad-Spiritualität hat sie ihr Gedicht genannt, in dem sie Gott direkt anspricht. Sie schreibt:

Du hast dir für uns
ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht,
ein Gleichgewicht,
in das man nicht hineinkommt
und das man nicht halten kann,
es sei denn in der Bewegung
im schwungvollen Voran.

Es ist wie mit einem Fahrrad,
das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt;
ein Fahrrad, das schief an der Wand lehnt,
bis man sich darauf schwingt
und schnell auf der Straße davonbraust.

Das Fahrradbild von Madeleine Delbrel hilft mir, wenn ich mal wieder einen besonderen Moment festhalten möchte – und gerne die Zeit anhalten würde. Nein, denke ich dann: Wir sind dazu geschaffen, uns zu bewegen und zu verändern. Und nur wenn wir das tun, halten wir das innere Gleichgewicht – und die Verbindung zu Gott. Wie Madeleine Delbrel es in ihrer „Fahrrad-Spiritualität“ beschreibt:

Wir können uns nur aufrecht halten,
wenn wir weitergehen,
wenn wir uns hineingeben
in den Schwung der Liebe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35798
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