SWR3 Gedanken

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13JUL2022
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In meinem Dorf wohnt Frau Holle. Meine Tochter hat ihr diesen Namen gegeben. Sie ist 90 alt. Ihr Schlohweißes Haar hat sie zu einem Dutt gebunden. Auf ihrer Nase sitzt eine goldene Brille. Um ihre Augen tanzen eine Reihe fröhlicher Lachfalten.

Frau Holle ist sehr fleißig. In ihrem schnuckeligen Fachwerk-Häuschen, kocht sie häufig für eine ganze Fußballmannschaft, strickt Socken für die Verwandtschaft, bäckt himmlisches Brot, bindet Blumen-Kränze und macht Quittegelee ein.

Wenn ich sie besuchen komme, steht in null Komma nix Stückl Kuchen auf dem Tisch.

Im Gegensatz zur fleißigen Frau Holle, fühle ich mich manchmal wie die Pechmarie. So wie in dem Märchen: Die Pechmarie ist die Faule. Die, die nicht aus dem Bett kommt. Die, die Hausarbeit nicht erledigt. Die das Brot nicht aus dem Ofen holt. Die, die Betten nicht ordentlich ausschüttelt.

Denn so bin ich oft: wie die Pechmarie. Die Wäsche liegt schon wieder feucht in der Maschine und ich hab vergessen sie rauszuholen. Ich kann in meiner Küche nichts kochen, weil ich erstmal putzen müsste und dazu bin ich zu faul. Also hole ich Döner und esse ihn im ungemachten Bett.

Wenn es nach dem Märchen ging, müsste mal jemand ganz ordentlich mit mir schimpfen!
Aber die Frau Holle aus meinem Leben, schimpft nicht. Sie erinnert mich stattdessen an meine Stärken: dann sagt sie mir zum Beispiel wie schön mein Gottesdienst am letzten Sonntag war oder dass ihr mein Text im Gemeindebrief gefallen hat.

Zuhause weiß ich dann wieder. Ja, wir Menschen sind ganz unterschiedlich. Haben unterschiedlich Stärken und Schwächen. In mir haushaltet es eben nicht – dabei kann ich andere Sachen gut. Von Frau Holle lerne ich immer wieder: wir sollten üben einander nach unseren Stärken zu beurteilen. Wer weiß: vielleicht konnte die Pechmarie im Märchen wunderbar Mathematik!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35761
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