SWR4 Abendgedanken

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30JUN2022
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Ich habe diese Tage einen kleinen Knirps getroffen, der ganz enttäuscht war, dass er kein Müllmann werden kann. Überrascht habe ich ihn gefragt, was denn dagegenspräche. Da hat er mir erklärt: „Müllmänner sind immer braun. Oder schwarz. Aber nie so weiß wie ich.“

Das hat mir einen Stich versetzt. Denn der Junge hat Recht: Bei uns hier in Tübingen haben tatsächlich viele Müllwerker eine dunkle Hautfarbe. Mir ist das vorher noch nie bewusst aufgefallen. Aber, ja, es ist so. Nun gehe ich mal schwer davon aus, dass die Hautfarbe kein Einstellungskriterium bei der Müllabfuhr ist. Und das habe ich dem Knirps auch erklärt. Aber trotzdem, der Stich, den mir diese Entdeckung gegeben hat, der ist geblieben.

In was für einer Gesellschaft leben wir? Ist es bei uns wirklich so, dass alle freien Zugang zu Bildung haben? Sind die Chancen gleich verteilt? Was ist mit der jungen Muslima, die gar nicht auf die Idee kommt, Lehrerin zu werden. Schlicht aus dem Grund, weil sie noch eine Lehrerin mit Kopftuch gesehen hat. Oder der Junge, dessen Eltern wenig Geld haben. Da ist kein Geld da, um ein Instrument zu lernen. Wenn er auch noch so musikalisch ist. Und der keinen Nachhilfeunterricht bezahlt bekommt, auch wenn er nötig wäre.

In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir dahin kommen, dass nicht immer die Gleichen die gleichen Jobs machen? Was brauchen wir, damit ein Kind, das von seiner Zukunft träumt, nicht dadurch beeinflusst sein muss, ob er oder sie ein Junge oder ein Mädchen ist oder welche Farbe seine oder ihre Haut hat. Oder welcher Religion er oder sie angehört. Was brauchen wir, damit Menschen ihre Gaben und Vorlieben entfalten können und ihnen Flügel wachsen, die sie ins Glück tragen?

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die altbekannten Schubladen – Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft und was es da noch so alles gibt – keine Bedeutung mehr haben für die Chancen, die wir bekommen. In einem alten Gebet aus der Bibel, im Psalm 39, ist der Beter ganz fest davon überzeugt, dass das auch Gottes Wille ist. Er sagt: „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9).

Gott gibt uns viel Platz. Er wünscht sich für uns einen weiten Raum mit vielen Möglichkeiten, unser Glück zu finden. Einen weiten Raum, in dem jede und jeder frei atmen kann, Flügel bekommt, sich entfalten und weiter entwickeln kann. Und das wünsche ich mir auch für unsere Gesellschaft hier. Für ein gerechtes Miteinander mit gleichen Chancen und Möglichkeiten für alle.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35674
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