SWR2 Wort zum Tag

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28JUN2022
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Wir Menschen brauchen Lebenslehrerinnen und Lebenslehrer. Menschen, die uns wichtige Hinweise geben. Johannes der Täufer war solch ein Richtungsweiser. Matthias Grünewald hat ihn so gesehen und gemalt. Auf seinem Isenheimer Altar sieht man Johannes, der mit einem riesigen Zeigefinger auf den gekreuzigten Christus weist. Der berühmteste Zeigefinger der Welt, hat mal jemand über dieses Bild gesagt. Johannes der Täufer zeigt auf Christus und sagt zugleich, dass der wichtiger ist als er selbst. Nach dem Matthäusevangelium weigert sich Johannes sogar zunächst, Jesus zu taufen, weil er sich als nicht würdig genug einschätzt. Gute Lebenslehrerinnen und -lehrer sind uneitel und können es aushalten, dass es neben ihnen auch andere gibt, die möglicherweise kompetenter sind als sie oder dass ihre Schüler sie sogar einmal überflügeln werden. Jeder Mensch braucht Lebenslehrerinnen und -lehrer, die nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern über sich hinausweisen. Gute Lebenslehrerinnen und -lehrer sind keine Gurus, die angebetet werden wollen. Sie sind vielmehr Menschen, die an wichtigen Schnittstellen des Lebens den richtigen Hinweis geben. Manchmal kommt es ja darauf an, dass einem überhaupt erst klar wird, dass man sich gerade an einer wichtigen Schnittstelle befindet. Dann lernt man von diesen wichtigen Menschen die Kunst der Unterscheidung zwischen Sinn und Unsinn, Gut und Böse, Chance oder Falle. Und den Mut, auch umzukehren, wenn man sich einmal falsch entschieden hat.

Die Resilienzforschung hat festgestellt, dass es für die seelische und körperliche Widerstandsfähigkeit von Menschen entscheidend wichtig ist, dass sie als Kinder mindestens einem solchen Lebenslehrer oder einer solchen Lebenslehrerin begegnet sind. Das müssen nicht die Eltern sein, es können auch Großeltern sein oder die Lehrerin in der Schule. Jedenfalls ein Mensch, auf den sich ein Kind verlassen kann, das ist wichtig. Dann entwickeln die Kleinen die Fähigkeit, später auch schwierige Lebenssituationen heil zu überstehen. Oder sogar an ihnen zu wachsen.

Im Rückblick bin ich daher sehr dankbar dafür, dass ich in meinem Leben solchen Menschen begegnet bin. Einer davon ist ein alter Jesuit aus Indien, der mich ein sehr schönes Gebet gelehrt hat, gut geeignet dazu, die Kunst der Unterscheidung zu lernen. Dabei halte ich die Hände wie eine Schale und bete: Ich bin wie eine Schale, bereit zu empfangen und zu geben. Und: Lass mich unter den vielen Stimmen deine Stimme heraushören.

Dass Sie heute unter den vielen Stimmen die für Sie gute Stimme heraushören und den für Sie guten Weg finden, das wünsche ich Ihnen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35655
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