SWR1 Begegnungen

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12JUN2022
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Dr. Dorothee Steiof Foto: Manuela Pfann

Manuela Pfann trifft die Ärztin und Theologin Dorothee Steiof

Ich bin im Süden von Stuttgart. Auf dem Platz vor mir steht die Kirche St. Maria mit ihren zwei großen Türmen. Hinter mir ist ein neues, schickes Einkaufszentrum und - die Paulinenbrücke. Treffpunkt für Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, zum Teil ohne Wohnsitz oder mit Suchtproblemen. Und mittendrin treffe ich Dorothee Steiof. Sie ist bei der Arbeit. Und dabei tut sie - nichts. Das ist ungewöhnlich, aber beabsichtigt. Sie ist einfach da und schaut und wartet erst mal ab. Das ist tatsächlich ihr Auftrag. Nur da sein. Und das ist gar nicht so einfach:

Weil wir wollen immer was tun und ich will gebraucht werden, das ist so tief in unserer DNA drin und ich kann mich gut erinnern: Am Anfang, als ich die Tätigkeit begonnen habe und ich einfach da war und ich dachte, was tue ich hier, wie kann ich denn hier sitzen und ich mach gar nichts. Diese Erfahrung auch im Nicht-Tun wirken zu können, das ist was ganz anderes wie nichts zu tun.

Seit gut einem Jahr ist Dorothee Steiof rund um die Kirche St. Maria unterwegs. Im Rahmen eines Projektes[1] von Caritas, Diözese und Kirchengemeinde probiert die Ärztin und Theologin aus, was passiert: wenn sie einfach da ist, ohne Angebot, ohne Programm, nicht erkennbar als kirchliche Mitarbeiterin; nur ansprechbar. Und wenn sie gefragt wird, was sie da tut?

Dann sag ich meinen Namen, ich sag, ich bin da und ich interessiere mich für Menschen, so, das ist so vielleicht meine Formel.

Und was passiert dann, wie geht es weiter, möchte ich wissen?

Es muss nichts passieren. Es kann sein, ich sitz manchmal da und denke: Puh, heute hätte ich gar nicht kommen brauchen oder es entstehen sofort Zweifel. Und plötzlich bin ich in ganz intensive Gespräche involviert und jemand erzählt mir von der Beerdigung seiner Mutter und wir tauschen uns über die Weisen, wie Menschen beerdigt werden, über Menschen aus, die uns nahestehen und wie wir sie erinnern und welchen Stellenwert sie in unserem Leben haben.

In solchen Gesprächen gibt dann auch Dorothee Steiof etwas aus ihrem Leben preis. Dann entsteht plötzlich eine vertraute Atmosphäre. Wie kann das gelingen, dass man sich mitten auf der Straße so nahekommt?

Ich glaube der Raum entsteht über die Befreiung, nichts zu müssen, interessiert da sein und diese Offenheit und dieses Absichtslose. Und es entsteht für so einen Moment ein wechselseitig sich Würde schenken. Und solche Momente zumindest zu ermöglichen oder dafür offen zu sein, das ist so, was mich umtreibt, ja.

Dorothee Steiof ist Ärztin und Theologin und seit gut einem Jahr arbeitet sie regelmäßig auf der Straße, auf dem großen Platz vor der Kirche St. Maria in Stuttgart. Sie ist weder Sozialarbeiterin noch Quartiersmanagerin. Sie ist einfach da. Bietet sich als Person an. Ohne Absicht und ohne Programm. Sie ist ansprechbar für alle. Und sie beobachtet:

Ich finde, wir gehen oft von A nach B, wir haben ein klares Ziel vor Augen und auf einmal merkt man, wie sich Menschen im öffentlichen Raum aufhalten; wer den ganzen Tag wo sitzt, wer von einem Sitzplatz zum anderen wandert, wer mit wem spricht oder nicht spricht. Auf einmal rücken ganz andere Menschen in den Vordergrund.

Nach einem Jahr ist dieser Ort ist für sie nicht mehr nur der Platz, zwischen Pflastersteinen, Sandboden und Grünstreifen, auf dem die Bänke mit Graffiti vollgesprüht sind.

Die Gesellschaft und öffentliche Orte auch als spirituell gefüllte Orte wahrnehmen, das habe ich da gelernt. Es entsteht so eine tiefe Verbundenheit zu den unterschiedlichsten Menschen; und dass das eigentlich die Weise ist, wo ich auch Gottes Gegenwart erlebe.

Das kann bei einem Blickwechsel sein oder im kurzen Austausch mit jenem Mann im Rollstuhl, der regelmäßig da ist. Oder bei ganz anderen Gelegenheiten, ganz unerwartet: Dorothee Steiof erzählt mir zwei kleine Beispiele:

Es gibt einen Menschen, der jede Nacht auf einem Friedhof übernachtet und mir berichtet, dass er jeden Abend, bevor er schlafen geht, trotzdem danke sagt dafür, dass er diesen Tag leben durfte.

Bei einer anderen Begegnung ist es so,

dass wir darüber sprechen, was gibt uns wechselseitig Kraft in schwierigen Situationen und ein Mensch anfängt, einen Gebetstext zu singen, der ihm Kraft gibt und wir sitzen am Straßenrand miteinander. Ich bin oft die Lernende, es entstehen oft Situationen, da ist gar nicht mehr klar, wer verkündet jetzt wem? Derjenige kann was ausdrücken von dem, was das Evangelium sein kann, wie ich es nie ausdrücken könnte.

Auch wenn sie Harry trifft, erlebt sie das. Und den trifft sie eigentlich immer, wenn sie vor St. Maria unterwegs ist. Harry hat selbst viele Jahre auf der Straße gelebt, ohne Wohnung. Jetzt hilft er mit, Lebensmittel zu retten und verschenkt sie dann in „Harrys Bude“, direkt neben der Kirche. 200 Leute kommen da jeden Tag vorbei. Harry erzählt Dorothee Steiof: so wie Menschen ihm geholfen hätten, so will er jetzt anderen helfen.

Wenn man Menschen nicht primär nur als Bedürftige ansieht, dann gelingt ein Perspektivwechsel, sagt Dorothee Steiof. Und dann kann man erfahren, wie einzigartig jeder Mensch ist.

Durch diese Freiheit in der Begegnung, dadurch, dass nicht so ganz klar ist, wer wir füreinander sind, wir zwei Menschen, die sich da begegnen - wer ist Gast, wer ist Gastgeber? Das verschwimmt für einen Moment und dadurch passiert es oft, dass ich zur Beschenkten werde. Dafür Möglichkeitsräume zu eröffnen, dass solche Erzählungen passieren, und das auch weitergeben zu können, das wird aus meiner Sicht viel zu wenig in Kirche getan.

 

Die Begegnung mit Dorothee Steiof vor der Kirche St. Maria gibt es auch als Audio-Slide-Show in Wort und Bild.

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https://www.caritas-im-lebensraum.de/beitraege/gott-in-der-stadt-entdecken-oder-was-macht-gott-in/1977475/

https://www.feinschwarz.net/was-macht-gott-in-der-stadt-erfahrungen-aus-einem-projekt-der-praesenzpastoral-im-sueden-von-stuttgart/

 

[1] Das Projekt wurde vom 1.2.21-31.1.22. von Bonifatiuswerk (https://www.bonifatiuswerk.de/de/) gefördert, seit dem 1.4.22 von der Diözese Rottenburg-Stuttgart

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35579
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