SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

10JUN2022
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Ich kenne meinen Bruder seit 36 Jahren. Schon immer eben. Seit ich lebe. Er ist dreieinhalb Jahre älter als ich und war schon immer da. Er war bei meiner Einschulung dabei; hat mit mir wilde Feste gefeiert und ist mit mir erwachsen geworden.

Wir haben viele Höhen und Tiefen gemeinsam erlebt – sind uns in den Armen gelegen, haben gemeinsam geweint, gelacht und heftig gestritten.

Und eben weil wir uns schon immer und so gut kennen, steckt er bei mir in einer Schublade fest. So wie die meisten Menschen stecke auch ich meine Mitmenschen in kleine Schubladen, um sie besser einzuschätzen. Und da kommen sie auch nur schwer wieder raus – vor allem nach so langer Zeit. Die Schublade meines Bruders lautet „klug, treu und humorvoll“; aber ehrlicherweise auch „stur, eingefahren und: besonders schlechter Zuhörer“.

Letztes Jahr musste mein Bruder sein Leben umkrempeln. Er steckte in einer schlimmen Krise, seine Frau und er trennten sich. Und einen Teil davon habe ich mit ihm durchlebt. Weil er seine Trauer mit mir geteilt hat und ich für ihn da sein durfte. Dabei ist etwas passiert: Ich lernte meinen Bruder ganz neu kennen. Erlebte plötzlich Seiten an ihm, die ich so noch nicht kannte. Die Schublade, in die ich meinen Bruder schon immer einsortiert habe, die musste ich öffnen. Erst dachte ich, er sei völlig verändert durch diese Krise. Ich nehme ihn nun als wahnsinnig reflektiert, verständnisvoll und einfühlsam wahr. Ein aufmerksamer Vater und Freund. Und stark, weil er eine Krise gemeistert hat – so gut, wie ich mir es hätte niemals vorstellen können. Aber es liegt nicht nur an seiner Veränderung, sondern auch an mir: Dass ich es erst durch diese Krise geschafft habe, ihn nach 36 Jahren endlich mal mit neuen Augen zu sehen. Wahrzunehmen, was ihn ausmacht und wer er in den letzten Jahren geworden ist.

Ich habe viele Schubladen; für viele meiner Mitmenschen. Und die meisten davon sind fest verschlossen. Das möchte ich ändern. Denn scheinbar bin ich an vielen Stellen eine schlechte Zuhörerin – höre oft nur das, was in meine Schubladen passt. Dabei ändern wir uns alle, ständig. Und haben neue Schubladen verdient. Und so ändere ich nun auch mich. Versuche, meine Schubladen abzuschaffen. So wie die meines Bruder. Und bin dankbar, dass nicht nur ich ihn in seinem Leben begleiten darf, sondern auch er mich begleitet. Als einfühlsamer Zuhörer, der er vielleicht schon immer war – aber ich habe es erst jetzt bemerkt.

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