Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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13JUN2022
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Die fünfzehnjährige Pia schüttet mir ihr Herz aus. Sie hat ständig Streit mit Ihrer Mutter. Sie sagt: „Wir sind einfach zu verschieden. Sie mag teure Klamotten; mich interessiert das gar nicht. Für sie zählt nur Leistung und Geld, mir ist viel wichtiger, dass ich mich mit meinen Freundinnen gut verstehe. Auch in politischen Fragen denken wir das glatte Gegenteil. Was am schlimmsten ist: Sie überwacht jeden Schritt von mir. Ich kann nichts unternehmen, ohne dass sie mir nachspioniert. Wir sind wie Feuer und Wasser.“ Das ist natürlich bitter, dass Pia so offenkundig darunter leidet, mit ihrer Mutter im Clinch zu liegen. Für ein Mädchen, die gerade dabei ist, eine Frau zu werden, ist die Mutter ein besonders wichtiger Mensch. Die Jüngere beobachtet genau, wie die Ältere sich verhält, wie sie eingestellt ist, wo sie Prioritäten setzt. So funktioniert Erwachsenwerden: Man schaut sich Dinge an den Vorbildern ab; aber man probiert auch genau das Gegenteil, um herauszufinden, was richtig für einen selbst ist. Und da gehört auch dazu, dass man streitet und dass es weh tut zu sehen, wie wenig man zusammenpasst als Mutter und Tochter. Wenn nur ein letzter Faden übrig bleibt, der garantiert: Ich kann dir noch vertrauen! Pia scheint sich da nicht sicher zu sein.

Was sie mir erzählt, klingt so wie eine Stelle im Lukas-Evangelium. Dort heißt es: Denn von nun an werden fünf Menschen im gleichen Haus in Zwietracht leben: Drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei; der Vater wird gegen den Sohn stehen und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter,…Jesus sagt das so drastisch, weil er sich darüber im klaren ist, dass es wegen ihm Streit geben wird. Wer ernst macht mit der Liebe zum Nächsten, provoziert die, die meinen, der Stärkere soll gewinnen. Wer auf Besitz verzichtet, übt an denen Kritik, die möglichst viel haben wollen. An Jesus scheiden sich die Geister. Deshalb sagt er das, was ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann: So streng und so ungnädig wie mit den Menschen in der eigenen Familie, geht man mit niemandem sonst um. Da braucht man nicht den Schein zu wahren, sondern es geht richtig zur Sache. Das darf sein. Es muss sein, damit die Verhältnisse geklärt sind. Gut, wenn trotzdem noch ein Rest an Vertrauen bleibt. Aber dafür sind beide Seiten verantwortlich. Pia und ihre Mutter.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35535
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