SWR2 Wort zum Tag

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01JUN2022
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Meine hochbetagte Mutter erzählt mir immer wieder voll Begeisterung, was für ein besonderer Tag der 1. Juni für sie war. Da gab es nämlich die ersten Erdbeeren aus dem Garten und den ersten Erdbeerkuchen – als Geburtstagskuchen für ihre Schwester. Meine Mutter hat in ihren 98 Lebensjahren viel erlebt und vieles auch vergessen. Das nicht.  Erste Früchte sind etwas Besonderes.

Freilich: Durch das globale Hin- und Herkarren von Obst und Gemüse kann man heute Erdbeeren das ganze Jahr kaufen. Aber wer Erdbeeren im Garten selber anbaut, spürt die Aura von ersten selbst geernteten Früchten. Und diese Aura hat tiefe Wurzeln. Sie reichen bis ins alte Babylon zurück und finden sich in vielen antiken Kulturen. Auch in der Bibel, in der Lebenswelt Israels. Hier wird die Bedeutung der ersten Früchte, der Erstlinge, wie sie auch heißen - besonders hervorgehoben.
Es gibt ein Gebot im 5. Buch Mose, da heißt es:

Wenn du dann in das Land kommst, das fruchtbar ist – wo Milch und Honig fließt  – und das dich gut ernähren wird, dann vergiss nicht: Gott hat dich hierher geführt und dir fruchtbares Land geschenkt. Darum sollen die ersten Früchte IHM gehören, dem du dein Leben verdankst: Gott.

Wie bitte?

Da hat man endlich dem Ackerboden etwas abgerungen. Und dann sollen die heißersehnten ersten Früchte gleich wieder abgegeben werden und Gott vorbehalten sein? Ich kann mir das schwer vorstellen.

Und doch – mich beeindruckt dieses Gebot auch irgendwie:
Einmal animiert es mich nämlich zu einem großen Vertrauen:
Fürchte dich nicht! Gott lässt genug wachsen. Genug für alle.
Keine Angst! Der dich leitet, lässt dich nicht verhungern. Andererseits animiert mich das Gebot zum Öffnen der Hände:

Du kannst abgeben – sogar von den ersten Früchten, auf die du dich so gefreut hast und kommst dabei nicht zu kurz. Denn vergiss nicht: Du hattest vorher buchstäblich nichts – und bist doch wunderbar bewahrt worden.
Gib darum freimütig und reichlich – Gott und dem Nächsten, der es braucht.

Martin Buber übersetzt das Gebot wortgetreu so:
Lasse den „Anfang der Frucht des Bodens“ Gott zukommen. (5.Mose 28,10).
Mich beeindruckt diese Vorstellung. Meiner menschlichen Leistung geht etwas voraus. Am Anfang steht ein Anderer: „Bilde dir nicht ein, das hättest du selber hervorgebracht, dir selber verdient, dir selber erwirtschaftet. Sei nicht so verliebt in deine eigene Leistung.“ Dieser Vorbehalt setzt mir ein menschliches Maß.

Und wenn es die erste Erdbeertorte gibt, muss ich auch daran denken – und kann sie dankbar genießen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35505
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