Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

20MAI2022
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Frau Swielow ist 96 Jahre alt. Sie hat so freundliche braune Augen. Sie sagt leise: „Ich nehm‘s, wie’s kommt“. Ich habe meinen Stuhl neben ihr Bett geschoben, und durch die gekippten Fenster weht ein bisschen Frühlingsluft ins Krankenzimmer.

Die Kräfte dieser Frau schwinden, das Herz will nicht mehr. Sie deutet nach oben und sagt: „Wissen Sie, wenn Er mich heute ruft, bin ich bereit. Und wenn Er mir noch ein paar Tage schenkt, ist das auch gut. Ich bin bereit, und nehm’s, wie’s kommt.“ Das hört sich womöglich nach einer frommen Floskel an, aber da ist etwas in der Stimme und im Blick dieser Frau, das mir sagt: sie meint es so. Dabei strahlt sie eine Ruhe und Zuversicht aus, die mich regelrecht umwirft.

Wie gelassen diese Frau auf das vertrauen kann, was da kommt, und wie sie dabei auch auf Gott vertrauen kann. So versöhnt und zufrieden, das finde ich unglaublich stark. Deswegen sage ich zu ihr: „Ich fühle mich wirklich beschenkt von Ihnen.“ Frau Swielow schiebt mein Kompliment mit einem schalkhaften Lächeln beiseite: „Aber von den Keksen hier haben Sie nichts genommen!“ So plaudern wir noch eine Weile. Zum Abschied wünscht sie mir alles Gute.

Während ich nach Hause fahre, wird mir bewusst, wie oft ich unzufrieden bin. Wenn nicht alles so läuft, wie ich mir das vorstelle. Das kann ein verpasster Bus sein oder eine frustrierende Erfahrung bei der Arbeit. Dann sehe ich nur das, was nicht gut geht. Oder wenn die Zeiten besonders stressig sind. Oder eine Krankheit auftaucht, die alles verändert. Aber auch in diesen Wochen, in denen sich die schlechten Nachrichten häufen, will ich versuchen, einen weiten Blick aufs Ganze zu behalten. Es gibt ja auch das Schöne: dass die Straßencafés zum Beispiel wieder voller Leben sind oder dass zwei Freundinnen endlich wieder versöhnt sind. Es hilft mir, beides zu sehen: Das Traurige und alles Fröhliche, das Verkorkste und das, was einfach gut eingespielt ist. Vielleicht schaffe ich es dann auch, es zu nehmen, wie es kommt.

Frau Swielow ist bald nach unserem Gespräch gestorben. Vielleicht hat sie in ihren letzten Momenten ja auch beides erlebt. Dass es am Ende schwer war loszulassen und dann wieder ganz leicht. Beides, Schweres und Schönes, gehört zum Leben. Frau Swielow hat mir etwas beigebracht: Wenn ich für beides offen bin, macht mich das freier. Ich will es immer wieder versuchen und offen und mutig auf das zugehen, was kommt.  

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