SWR2 Wort zum Tag

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18MAI2022
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Meine kleine Enkelin ist ganz in ihrem Leib zuhause. Sie bewegt sich völlig selbstverständlich in und mit ihrem Körper. Klar, mit 14 Monaten ist man noch flexibler als mit 60 Jahren und ich bekomme meine Zehen nicht mehr so leicht in den Mund wie sie, wenn überhaupt. Aber der größte Unterschied ist doch, dass ich – leider – längst nicht mehr so selbstverständlich eins mit meinem Leib bin wie das kleine Wesen. Ich bewerte meinen Körper, ich schaue ihn von außen an, ich versuche, ihn zu trainieren, ich entdecke ihn nicht freudig, sondern ärgere mich über Speckrollen und Fältchen und entwerte ihn dadurch und letztlich mich selbst. Es ist so schade, dass wahrscheinlich eines Tages auch meiner Enkelin die selbstverständliche Freude an ihrer Leiblichkeit verdorben wird. Noch lebt die Kleine im Paradies leiblicher Selbstverständlichkeit. Doch spätestens in dem Moment, indem sie entdecken wird, dass es Schönheitsideale gibt, denen sie nicht entsprechen kann; oder an dem Tag, an dem sie merkt, dass andere ihr Aussehen bewerten, steht die Vertreibung aus diesem Paradies an. Sehr schade! Denn am Anfang der Schöpfung stand ein anderes Votum. Gott sah an alles, was er geschaffen hatte, und kommt zu dem Schluss: Es war sehr gut!

Angeblich geht der Trend ja nun in die Gegenrichtung. Selbst beim Format „Germanys next Topmodel“ wird Diversität großgeschrieben und auch Frauen meiner Altersklasse haben an der Sendung teilgenommen. Aber wetten, dass die Siegerin weder kurvig noch Ü60 sein wird? Ganz abgesehen davon, dass die Kandidatinnen Ü60 in dem Format alle superschlank sind und in ihrer Jugend als Models tätig waren. Für mich ist die angebliche Diversität in der Schönheitsindustrie daher mit einem großen Fragezeichen versehen, wenn nicht sogar verlogen. Die Angelegenheit wird auch nicht besser dadurch, dass schon die Menschen der Antike ihre Körper optimiert und sich an idealen Proportionen orientiert haben, das Phänomen also keine Erfindung der Moderne oder Postmoderne ist. 

Immerhin: Es gibt die Chance, das Paradies wiederzuentdecken. Z.B. mit einem Menschen, der mich liebevoll anschaut und mich gerade so mag und liebhat wie ich bin. Sogar im nackten und ungeschminkten Zustand. Ich finde, das ist ein himmlisches Geschenk, das mich daran erinnert, dass wir Menschen – jedenfalls in den Augen Gottes – keine Optimierung brauchen, sondern lediglich ganz viel Liebe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35400
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