SWR4 Abendgedanken

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12MAI2022
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„IC 119 von Münster nach Innsbruck, fahrplanmäßige Abfahrtszeit 9.38 Uhr. Dieser Zug wird heute etwa 40 min später ankommen.“ Eine Ansage, die mich am Bahnhof erwischt hat. Ich habe warten dürfen.

Zuerst ein bisschen missmutig. Mit der Zeit aber immer gelassener. Schließlich kommt der Zug auch nicht früher, wenn ich mich aufrege. Es geht nach Hause. Und kein weiterer Termin am Abend. Da fällt es mir leicht.

Außerdem habe ich so Zeit durch die Gegend zu schauen und kann Leute beobachten am Bahnsteig. Etwas, was ich gerne tue. Da sehe ich so viele verschiedene Menschen. Alle haben etwas gemeinsam, warten. Und doch sind alle verschieden, wie sie damit umgehen. Echte Wartetypen:

Der Unruhige mit zusammengekniffenen Lippen. Er tippt in sein Handy. Und schaut immer wieder zur Anzeige.
Die Aufgeregte, die leise vor sich hin schimpft, vielleicht geht gerade ein Termin für ihr Bewerbungsgespräch verloren.
Und dann ist da noch der Typ, der ständig den Bahnsteig auf und ab läuft und auf die Uhr schaut, als ob die Zeit dann schneller gehen würde.

Ich selbst bin an einer Stelle stehengeblieben. Und mit der Zeit haben sich meine Gedanken geändert. Statt der Menschen auf dem Bahnsteig, sind es viele Bilder gewesen, die mir durch den Kopf gegangen sind. Fröhliche, traurige, von streitenden Menschen, von spielenden Kindern, von alten Menschen und Familien. Und ich merke, wie ich anfange mich mit Gott auszutauschen und zu beten. 
Ich bete und warte. Passt das zusammen?

In unserer heutigen eng getakteten Zeit ist für Warten eigentlich kein Platz. Man ahnt schon, dass es wahrscheinlich nicht schnell geht, wenn es etwa beim Arzt heißt: „Nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz!“. Und wenn da schon acht Personen sitzen, kann es die eigentlich gute Laune trüben.

Verlorene Zeit? Oder ist es vielleicht sogar eine geschenkte Zeit?
Beim Warten kann ich nämlich etwas lesen, zu dem ich sonst nicht kommen würde. Oder ich kann über etwas nachdenken, für das ich mir sonst keine Zeit nehmen würde. Manchmal entwickeln sich auch interessante Gespräche mit den anderen Wartenden.

Und ab und zu vertraue ich Gott meine Gedanken an, mit denen ich selbst nicht weiterkomme. Schließlich habe ich ja Zeit.

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