SWR2 Wort zum Tag

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05MAI2022
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Neulich fragt mich mein Nachbar: „Warum gehst Du eigentlich immer noch zu diesen Friedensgebeten? Schau mal, der Krieg in der Ukraine dauert jetzt schon zehn Wochen. Seitdem beten überall auf der Welt Menschen für den Frieden. Aber jede Woche wird die Lage schlimmer. Die Schlachten werden immer brutaler. Der Frieden ist weiter weg denn je. Wenn Du ehrlich bist, musst Du doch sagen: ‚Wir haben gebetet und es hat nichts gebracht. Gott hat uns nicht gehört.‘ Wäre es nicht besser, wenn Ihr die Zeit der Friedensgebete nutzt, um den ukrainischen Flüchtlingen vor Ort ein bisschen deutsch beizubringen?“

Mein Nachbar spricht Fragen aus, die auch in mir selbst rumoren. Seit dem 24. Februar organisiere ich jede Woche ein Friedensgebet. In ganz Deutschland gibt es Tausende davon. Und Millionen Christen beten im eigenen Kämmerlein regelmäßig für den Frieden. Verhallen alle diese Stimmen ungehört im unendlich großen, dunklen Universum?

Ich zögere mit einer Antwort. In mir selbst finde ich verschiedene Gefühlslagen. Einerseits bin ich frustriert. Zornig, hoffnungslos. Wie kann das sein, Gott, so denke ich dann: So viele Menschen, die Dich bitten, und der Krieg geht einfach weiter?

Andererseits merke ich, dass die gemeinsamen Friedensgebete mich verändern. Sie stärken mich. Weil sie meiner Unruhe Worte geben. Und weil sie mich mit anderen Menschen verbinden.

Und so denke ich mir: Vielleicht nützen die Friedensgebete doch etwas. Nicht, weil wir dadurch Gott beeinflussen. Sondern weil Gott damit uns beeinflusst. Gott nutzt unsere Gebete, um jeden Einzelnen von uns zu verändern. Und uns als Gemeinschaft. Durch Gottes Geist entstehen überall in Deutschland kleine Friedensgemeinschaften. Energiezentren des Widerstands gegen das Böse.

Das ist dann mehr als eine individuelle Kurz-Therapie für die aufgescheuchte Psyche von einem verschreckten Westdeutschen wie mir. Denn ich hoffe, dass Gott diese kleinen Friedensgemeinschaften nutzt, um dadurch auch die Ukrainer zu stärken. Indem sie wissen, dass überall auf der Welt Millionen von Menschen für sie beten, wird die Moral der Ukrainer gestärkt, ihre Resilienz. Ihre Fähigkeit, sich dem Bösen entgegenzustellen. 

Das ist viel weniger als das, worauf ich eigentlich hoffe. Aber es ist viel mehr als nichts. Mir reicht es, um auch diese Woche wieder zum Friedensgebet zu gehen. Und am Abend im Gebet meinen Frust vor Gott zu tragen. Aber auch meine bleibende, brennende Sehnsucht nach wahrem Frieden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35362
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